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vor allem für das „Äußere derHandlung“,Motive des älteren deutschen
Romans (Verkleidung,Missverständnisse, Gefangenschaft etc.) undMo-
tive des englischen Familienromans (heimliche Heirat, Gefährdung der
Tugend etc.) Einfluss auf La Roches Schaffen, wobei offensichtliche
Ähnlichkeiten mit Samuel Richardsons Romanen Pamela (1740) und
Clarissa (1748) auszumachen seien. (Touaillon 1919, 105)
VorgängerfunktionhabedieGeschichtedesFräuleinsvonSternheimaber
auch in der Anlage der Figuren; so besitze der Held Lord Seymour
„WertherzügevordemWerther“unddieHeldinseischonzeitgenössischals
„neuerundexotischerTypus“eingeschätztworden.(Touaillon1919,107–
108)LordSeymourfindetimLiebeskummerseineeinzigeBefriedigung,er
„klagt statt zu handeln“, ist unentschlossen und fühlt, dass „seine Emp-
findungen ihmgefährlichwerden“; Sophie von Sternheimwiederumhat
bereits ein „empfindsames Äußeres“, sie ist „nicht mehr vollkommen
schön“,beeindrucktabermiteinem„GesichtvollSeele“. (Touaillon1919,
108) Gleichzeitig weise der Roman auch die für die Empfindsamkeit
„typische Unterscheidung zwischen männlicher und weiblicher Emp-
findsamkeit“ auf:Während dieHeldin trotz ihrer Konzentration auf die
Vorgänge in ihrem Inneren immer gefasst und gütig bleibt, ist Lord Sey-
mour stets „schwermütig bis zurZerrissenheit“. Außerdem finden sich in
demRoman die für die Empfindsamkeit charakteristischen „Männerträ-
nen“,die „LiebeaufdenerstenBlick“, ein„ÜbermaßanEmpfindungen“,
das „Gefühl derUnzulänglichkeit des Lebens“, das „Motiv derKrankheit
ausKummer“und nicht zuletzt eineVielzahl an empfindsamenBriefen,
die immer undüberall geschriebenwerden. (Touaillon 1919, 110)
Auch in der Technik des Romans sieht Touaillon einen klaren Fort-
schritt gegenüberdenVorgängernderSternheim:Sofehledie „Suchtnach
Spannung“ (Touaillon 1919, 112), die den heroisch-galanten Roman
kennzeichne, und der zusammenfassende und aufklärende Erzähler, der
durch den rationalistischenRoman führe, ebensowie die für beide typi-
schenundurchsichtigenVerwicklungenundVersteckspielezugunsteneines
klaren, übersichtlichen und kunstvoll gestaltetenAufbaus. Selbst die von
Richardson übernommene Brieftechnik habe La Roche durch dasWeg-
lassen der Antwortschreiben dahingehend modifiziert, dass eine klare
StraffungderDarstellungzuerkennensei.BezüglichderSprachekönneder
Roman,wie schonEnde des 18. Jahrhunderts derTheologe undBonner
Professor für Literatur Eulogius Schneider und im19. Jahrhundert auch
II.2. Literatur-, Kultur- und Sozialgeschichte 107
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Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Title
- Germanistik in Wien
- Subtitle
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Author
- Elisabeth Grabenweger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 290
- Keywords
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Category
- Lehrbücher