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hundert bei denMännern geradezu dasMerkmal jedes großenGeistes“
gewesen sei, fehle überhaupt ganz. (Touaillon 1919, 640)
DerVorstellung, dass diese „Verschiedenheiten derWerke“ auf „Ver-
schiedenheitendermännlichenundweiblichenNatur“beruhenkönnten,
widersprichtTouaillontrotzdemmitNachdruck.Vielmehrseiensieeinzig
und allein mit „den verschiedenen Lebensverhältnissen“ und „den An-
schauungendes18. JahrhundertsüberdasVerhältnisderGeschlechter“zu
erklären. (Touaillon 1919, 643) Unzureichender Unterricht, das Fern-
halten von öffentlichen Positionen, die Festschreibung auf das familiäre
Umfeld, die engen Tugendvorstellungen hätten nicht nur dazu geführt,
dass Frauen erst imDurchschnitt mitMitte dreißig, also viel später als
Männer,zuschreibenbegannen,sonderngleichzeitigauchdieGrenzender
Handlung,dieTechnik, dieSpracheunddenTonderRomanebestimmt.
Diegebräuchliche„AnekdotevonderVeröffentlichungeinesWerkesohne
VorwissenderVerfasserin“unddie vorherrschende erzieherischeTendenz
der Romane seien wiederumdarauf zurückzuführen, dassÖffentlichkeit
und literarischesSchaffenvonFrauennurdanngebilligtwordensei,wenn
einklarerkennbarer,vonMännernabgesegneterNutzendamitverbunden
war. (Touaillon 1919, 645)Daraus lasse sich auch die starke Beteiligung
von Schriftstellerinnen an Romanen der Aufklärung erklären, die durch
das familiäre Setting und die pädagogische Ausrichtung den Lebensum-
ständen der Frauen entgegengekommen seien, während derGenieroman
des Sturm und Drang nicht nur dem männlichen Frauenideal wider-
sprochen, sondern auch durch seine Entstehung im akademischen, uni-
versitärenUmfeldFrauenvonvornhereinausgeschlossenhabe.Diegeringe
Beteiligung von Schriftstellerinnen an der Romantik erklärt Touaillon
wiederummit der darin postulierten Auflösung familiärer und ehelicher
Verbindungen; diewenigenAutorinnen desKlassizismusmit dessenAn-
spruch eines „hohen, inBildung umgesetztenWissens“. Einzig die Emp-
findsamkeit habe es als „Revolution der Schwachen“den Frauen ermög-
licht, über ihre Unzufriedenheit zu klagen, ohne gleichzeitig zu – als
unweiblich empfundener – Empörung oder gar zur Tat schreiten zu
müssen. (Touaillon 1919, 648–649)
IhreStudiebeendetTouaillonmit einerkurzenund– imVergleich zu
ihrenbisdahinüberwiegendhistorischfundiertenErörterungen–auffällig
spekulativenDiskussion einer Frage, die zuBeginn des 20. Jahrhunderts
äußerst populär war und zumeist polemisch verhandelt wurde.Nämlich,
obderdeutscheRomandurchdenEintritt vonFraueneine„Bereicherung
oderVerarmung“erfahrenhabe.Auffällig sei lautTouaillonzunächst,dass
das „ÜberhandnehmenderweiblichenSchriftstellerei“dazugeführthabe,
II. Christine Touaillon
(1878–1928)120
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Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Title
- Germanistik in Wien
- Subtitle
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Author
- Elisabeth Grabenweger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 290
- Keywords
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Category
- Lehrbücher