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DeutschenLitteratur (1883–1888) zu systematisieren, entwickelteScherer
eine Wellentheorie, anhand der er die drei von ihm angenommenen
Blüteperioden um 600, 1200 und 1800 und die zwei Tiefpunkte im
10. und 16. Jahrhundert zu erklären versuchte. In einer „Kopplung von
KausalannahmenundGeschlechtscharakter“80differenzierteSchererdabei
zwischen ,männischen‘ und ,frauenhaften‘ Epochen, wobei die ,frauen-
haften‘aufgrundihres tolerantenundkunstsinnigenCharaktersdie jeweils
literarisch produktiveren undwertvolleren seien.81Denhöchsten literari-
schenGipfeleiner,frauenhaften‘EpochebildetediedeutscheKlassik,allen
voran JohannWolfgangGoethe,mit dessenTod Scherer seine Literatur-
geschichte auch enden lässt. Frauen selbst haben andiesenBlüteperioden
keinenproduktivenAnteil, ihr ,Geschlechtscharakter‘ verleiht ihnenbloß
die attributiveBestimmung.
Ein ganz anderes Bild zeichnen die populären zeitgenössischen Lite-
raturgeschichten.Diebeliebtestenundmeistgelesenenunter ihnen,diebis
zumBeginn des 20. Jahrhunderts häufig in einer nicht endenwollenden
Auflagenzahl erschienen, beschäftigen sich ausführlich mit Schriftstelle-
rinnen. So JulianSchmidtsGeschichte der deutschenLiteratur im19. Jahr-
hundert (1853), Rudolf GottschallsDie deutsche Nationalliteratur in der
ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts (1855), Robert Prutz’ Die
deutsche Literatur derGegenwart (1859) undLudwigSalomonsGeschichte
der deutschenNationallitteratur des neunzehnten Jahrhunderts (1881), um
nur einigewenige zunennen.82Darüberhinaus erschienen inden1880er
und 1890er Jahren drei Literaturlexika, die ausschließlich Autorinnen
verzeichnen:HeinrichGroß’dreibändigesWerküberDeutscheDichterinen
undSchriftstellerineninWortundBild(1885),MarianneNiggsBiographien
der österreichischenDichterinnenundSchriftstellerinnen (1893)undSophie
Patakys Lexikon deutscher Frauen der Feder (1898).Wennman bedenkt,
dass ein derartigesUnterfangen erst wieder fast hundert Jahre später rea-
80 Fohrmann:DasProjekt der deutschenLiteraturgeschichte (1989), S. 222.
81 ZudenBezeichnungen ,männisch‘und ,frauenhaft‘ vgl. Scherer:Geschichte der
deutschenDichtung im elften und zwölften Jahrhundert (1875). – Zu Scherers
literaturgeschichtlicherKonzeption vgl.Müller:WilhelmScherer (2000);Mich-
ler: An den Siegeswagen gefesselt (1996); Höppner: Das „Ererbte, Erlebte und
Erlernte“ imWerkWilhelmScherers (1993).
82 Für eine vollständigeAuflistungvgl. Fritsch-Rößler:Bibliographiederdeutschen
Literaturgeschichten (1994); Schumann: Bibliographie zur deutschen Literatur-
geschichtsschreibung (1994).
II. Christine Touaillon
(1878–1928)122
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Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Title
- Germanistik in Wien
- Subtitle
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Author
- Elisabeth Grabenweger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 290
- Keywords
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Category
- Lehrbücher