Page - 124 - in Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
Image of the Page - 124 -
Text of the Page - 124 -
schichten, die denExaktheitsansprüchen der amPhilologiemodell orien-
tierten Neugermanistik nicht mehr genügen konnten, zu distanzieren.
Denn: „Literarhistoriker und Dilettant zu sein: diese beiden Prädikate
seien als Synonym zu begreifen.“90 ImZuge dieser Entwicklung ist das
Schreiben vonLiteraturgeschichten, das im19. Jahrhundert nochHoch-
konjunkturhatte– zwischen1835und1899erschienennichtweniger als
199, d.h. imDurchschnitt drei pro Jahr –, zunehmend in die Krise ge-
raten.91 ImÜbergang zum20. Jahrhundert drängte die weitere „Ausdif-
ferenzierungdesgeistesgeschichtlichenGrundmodells inProblem-, Ideen-
und Stilgeschichte“92 jedoch nicht nur die Literaturhistoriographie zu-
nehmend indieDefensive, sondern auchAutorinnenausdemKanonder
literaturwissenschaftlichenUntersuchungsgegenstände.
DerKanon, auf den sich dieNeugermanistik berief und vondem sie
ihren universitären Legitimitätsanspruch ableitete, war die Weimarer
Klassik.VorallemdieGoethe-Philologie,mitder sichdieNeugermanistik
zunächst als Fach konstituierte, stand imMittelpunkt des Interesses.93
Trotz einiger Kritik an dem neuen Wissenschaftlerselbstverständnis,
„Specialist füreinpaarclassisch-romantischeDecennien“94 seinzuwollen,
kammandoch immerwieder zudemSchluss, dass eskeinenSinnmache,
„irgendeinenJammerpoetenaus irgendeiner Jammerperiodephilologisch
erschöpfend zu monographieren“95. Gegen die „Wissenschaft des nicht
Wissenswerten“wurde jetzt „eine stärkere Konzentration auf das Bedeu-
tungsvolle, auf die großen Autoren undWerke“ gefordert.96Überhaupt
gewann inAbgrenzung zur und inErweiterung der kleinteiligen philolo-
gischenArbeit die „Persönlichkeit desDichters“, das „schöpferische Sub-
jekt“undnicht zuletztdas „literarischeGenie“zunehmendanBedeutung.
Die „gesammelten Detailerkenntnisse in konzentrierter Form zusam-
menzufassen und dabei dasCharakteristische der Erscheinungen hervor-
zuheben“ wird damit zur „vornehmste[n] Aufgabe“ des Literaturwissen-
schaftlers, „weil sie – außer philologischer Schulung– voraussetzt, daß er
90 Fohrmann:Organisation,Wissen, Leistung (1991), S. 117.
91 Vgl. auch die hoheAnzahl von ,Krisentexten‘ aus dieser Zeit:Dainat/Fiedeldey-
Martyn: Literaturwissenschaftliche Selbstreflexion (1994).
92 Höppner:Die regionalisierteNation (2007), S. 31.
93 Vgl.Kruckis:Goethe-PhilologiealsParadigmaneuphilologischerWissenschaft im
19. Jahrhundert (1994).
94 Roethe:Gedächtnisrede auf Erich Schmidt (1913), S. 620.
95 Fulda:Ueber historische und ästhetischeBetrachtung (1885), S. 677.
96 Dainat:VonderNeuerenDeutschenLiteraturgeschichtezurLiteraturwissenschaft
(1994), S. 506. II. Christine Touaillon
(1878–1928)124
back to the
book Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)"
Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Title
- Germanistik in Wien
- Subtitle
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Author
- Elisabeth Grabenweger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 290
- Keywords
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Category
- Lehrbücher