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dasWesentliche vomUnwesentlichen und Zufälligen zu unterscheiden“
vermag.97
Was als ,unwesentlich‘, was als ,wesentlich‘ undwer als ,großeDich-
terpersönlichkeit‘ zu gelten hatte, stand jedoch schon vor derKonstituie-
rung derNeugermanistik fest. Grundlegend für die Abgrenzung des Ka-
nons,aufdensie sichberiefundder ihreEinrichtungalsuniversitäresFach
legitimieren sollte, waren nämlich Vorgänge, die sich nicht im Feld der
Wissenschaft, sondern im literarischenFeld selbst vollzogenhatten.Diese
Vorgänge,dieinderzweitenHälftedes18.Jahrhundertseinsetzten,sollten
in den darauffolgenden Jahrzehnten den Literaturbetrieb grundlegend
verändern. Auch die zur selben Zeit „auftretenden Behinderungen für
Schriftstellerinnen“98 lassen sich, wie zu zeigen sein wird, auf diese Ver-
änderungen zurückführen. Zumeinen ermöglichten geänderteDruckbe-
dingungen eine billigere und schnellereMassenproduktion vonBüchern,
zum anderenwurde durch die zunehmende Alphabetisierung der Bevöl-
kerung Literatur nicht nur Angelegenheit einer elitären Oberschicht,
sondern verbreitete sich auch bei durchschnittlich gebildeten Lesern.99
BeideszusammenführtezueinerAusweitungundKommerzialisierungdes
Buchmarkts, an dem erstmals auch Schriftstellerinnen in nennenswerter
Zahl Anteil hatten. Helga Gallas’ und Anita Runges Bibliographie von
RomanenundErzählungendeutscherAutorinnenverzeichnet fürdieZeit
zwischen 1771 und 1810 immerhin 110Autorinnenmit 396Veröffent-
lichungen.100
Gleichzeitig und in scheinbaremWiderspruch zur Egalisierung und
Kommerzialisierung des literarischen Feldes etablierte sich aber auch ein
neues, selbstbewusstes Autorschafts- undKunstverständnis.Dabei wurde
die „Autorposition […] durch das Genie besetzt“ und das „Dogma der
97 Dainat:VonderNeuerenDeutschenLiteraturgeschichtezurLiteraturwissenschaft
(1994), S. 507.
98 Heydebrand/Winko: Geschlechterdifferenz und literarischer Kanon (1994),
S. 133.
99 Vgl. Bürger: LiterarischerMarkt undÖffentlichkeit am Ausgang des 18. Jahr-
hunderts inDeutschland (1980), S. 162–212; Fronius: „Nur eine Frauwie ich
konnte so einWerk schreiben“ (2007), S. 29–52.
100 Dramen, Autobiographien und Gedichtbände sind bei dieser Zahl nicht be-
rücksichtigt; Gallas/Runge: Romane und Erzählungen deutscher Schriftstelle-
rinnenum1800(1993).–1825 führteCarlSchindelüber500Schriftstellerinnen
an, Sophie Pataky 1898bereits über 5.000; Schindel:Die deutschen Schriftstel-
lerinnen des 19. Jahrhunderts (1823–1825); Pataky: Lexikon deutscher Frauen
der Feder (1898). II.3. Kanon undGeschlecht 125
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Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Title
- Germanistik in Wien
- Subtitle
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Author
- Elisabeth Grabenweger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 290
- Keywords
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Category
- Lehrbücher