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25Glaube
und Gewalt
und antisemitische Reaktionen schürte; dass es dabei regelmäßig zu kör-
perlichen Übergriffen auf Juden kam, zeigt, dass zwischen einer gesetzlich
geregelten und einer gelebten Pluralität Welten lagen43. Die katholische
Begegnung mit dem Islam war ebenfalls von Ablehnung geprägt, auch wenn
die Muslime nicht wie die Juden als »innerer Feind«, d.h. als eine »Gefahr«
für den natio
nalen Körper, sondern eher als exotische und eher potenzielle
Bedrohung wahrgenommen wurden44. Inwiefern diese unterschiedlichen
Wahrnehmungen wie auch die rechtliche Stellung verschiedenster religiö-
ser Gemeinschaften das interkonfessionelle und -religiöse Gewaltpotenzial
beeinflussten, wird noch zu sehen sein.
Glaube und Gewalt:
Theorien über das Wesen der »religiösen Gewalt«
Das akademische Interesse an »religiöser Gewalt« hat in den letzten Jahren
deutlich zugenommen, wie der bereits erwähnte Anstieg von vor allem sozial
-
wissenschaftlichen Studien zeigt. Als Wegbereiter dieser Entwicklung wird
oft der Anthropologe René Girard zitiert, der in seinem 1972 veröffent-
lichten Essay La violence et le sacré in der Religion ein Mittel zur Bewäl-
tigung von Gewalt erblickte45. Girard ging davon aus, dass in archaischen
Gesellschaften der »mimetische Wunsch« (désir mimétique) – das Prinzip,
wonach die eigenen Wünsche mit denen der Anderen verbunden sind bzw.
in Konkurrenz stehen – zu Rivalitäten innerhalb der Gruppe geführt habe46.
Um die hieraus entstandene Gewalt zu beenden, sei ein gemeinsamer Feind
konstruiert worden: der Sündenbock. Dieser habe als Projektionsfläche für
Spaltungen innerhalb der Gemeinschaft gedient, deren Behebung durch
43 So Tim Buchen und Julie Kalman in ihren Beiträgen. Für katholische Gewalt, die an
Juden verübt wurde, siehe auch Pierre Birnbaum, Le moment antisémite: un tour de
la France en 1898, Paris 1998; Christhard Hoffmann u.a. (Hg.), Exclusionary Vio-
lence: Antisemitic Riots in Modern Germany, Ann Arbor 2002; Daniel Unowsky,
The Plunder. The 1989 Anti-Jewish Riots in Habsburg Galicia, Stanford 2018.
44 Das zeigt auch der Beitrag von Sara Mehlmer in diesem Band. Zur europäischen
Wahrnehmung des Islam im Laufe der letzten Jahrhunderte, siehe auch Felix
Konrad, Von der »Türkengefahr« zu Exotismus und Orientalismus: Der Islam
als Antithese Europas (1453–1914)?, in: Institut für Europäische Geschichte (Hg.),
Europäische Geschichte Online (EGO), Mainz 2010, URL: <http://www.ieg-ego.eu/
konradf-2010-de> (27.05.2019). Für weitere Literatur siehe die dortigen Referenzen.
45 Im gleichen Jahr, und unabhängig von Girard, veröffentlichte der Philologe Wal-
ter Burkert das Buch Homo Necans: Interpretationen altgriechischer Opferriten und
Mythen, worin er der Gewaltdimension antiker Glaubenspraktiken nachging. Für
die internationale Forschung zu »religiöser Gewalt« war Burkerts Buch eher wenig
einflussreich.
46 Vgl. René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Düsseldorf 2006, S. 219.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918