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45Religion
und Gewalt in den Revolutions- und Napoleonischen Kriegen
Umgekehrt, wie noch zu zeigen ist, kam es nun zu »religiöser Gewalt«, die
gegen den antiklerikalen Staat gerichtet war. Mit anderen Worten: Als die
Franzosen drohten, sich von hergebrachten geistlichen Praktiken und religi-
ösen Denkmustern abzuwenden, kam es zu Gewalt, zu der manchmal
– aber
keineswegs immer – die kirchliche Hierarchie ihren Segen gab. In diesen
Fällen konnte es tatsächlich, entgegen der Behauptung Fords, zu Massakern
und Verstümmelungen kommen, zu roher Gewalt, die zwar an die frühneu-
zeitlichen Religionskriege erinnert, aber doch ganz anderer Art war, wie wir
sehen werden.
Schließlich verstehen wir unter »religiöser Gewalt« zwei Phänomene, die
im Allgemeinen, aber nicht notwendig, verbunden sind: Gewalt, die man der
eigenen Religion wegen erleidet, und solche, die man aus religiöser Überzeu-
gung ausübt6. Im Gegensatz zur Neigung der zeitgenössischen Forschung,
die Rolle von Religion in den Revolutions- und Napoleonischen Kriegen he-
runterzuspielen, soll hier argumentiert werden, dass beide Elemente einen
wichtigen Beitrag dazu leisteten, den Widerstand gegen die Franzosen aus-
zulösen und aufrechtzuerhalten. Es wird ferner die Ansicht vertreten, dass –
wiederum im Gegensatz zu Ford
– in vielen katholischen Gegenden Europas
die Religion noch nicht als vorrangig weibliche Angelegenheit betrachtet
wurde, weshalb die »religiöse Gewalt« keineswegs nur von Frauen ausgeübt
wurde, und zudem extrem wandlungsfähig war7. Nicht nur die antifranzösi-
sche Rhetorik war religiös geprägt, sondern auch die Symbolik des Kampfes,
die sich oft in Darstellungen des Kreuzes, der Heiligen Jungfrau oder des
Herzens Jesu zeigte. In Kalabrien folterten und kreuzigten Rebellen ihre
Opfer auf eine Weise, die man nicht anders als religiös deuten kann8.
Getreu der Aufforderung Natalie Zemon Davis’, Religion als Deutungs-
schema im Leben gewöhnlicher Menschen gründlicher zu bedenken, wird in
diesem Beitrag versucht, den Widerstand gegen die französische Besatzung
im religiösen Sinne zu verstehen und religiöse Praktiken sozial zu erklären9.
Zunächst werden die antiklerikalen Aspekte der französischen Revolution
wie auch der darauffolgenden Eroberungszüge betrachtet sowie die allge-
meinen Reaktionen der Gläubigen auf Vorgänge, die einen Angriff auf ihren
Glauben und ihre Gebräuche darstellen mussten. Damit soll Religion im
Nachdenken über Gewalt und Widerstand während der Revolutions- und
6 Vgl. Claude Langlois, De la violence religieuse, in: French Historical Studies 21
(1998), H. 1, S. 113–123, hier S. 115.
7 Vgl. Ann Taylor Allen, Religion and Gender in Modern German History. A Histori-
ographical Perspective, in: Karen Hagemann / Jean H. Quataert (Hg.), Gendering
Modern German History. Rewriting Historiography, New York 2007, S. 190–207.
8 Vgl. Nicolas Cadet, Honneur et violences de guerre au temps de Napoléon. La Cam-
pagne de Calabre, Paris 2015, S. 306–309, 311–316.
9 Vgl. Natalie Zemon Davis, The Rites of Violence. Religious Riot in Sixteenth-Cen-
tury France, in: Past & Present 59 (1973), S. 51–91, hier S. 54.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918