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Gewalt und Märtyrertum
Urnengang anfällig für Beeinflussungen; die Einschüchterung und Beste-
chung von Wählern, sogar Betrug waren keine Seltenheit, fanden allerdings
meist unter katholischer Federführung statt 25. Gelegentlich wurden sie von
Krawallen begleitet. So kam es in Aalst infolge des liberalen Wahlsiegs 1866
zu Exzessen, wobei Katholiken eine Feier störten, Katzenmusik spielten und
Liberale verprügelten26. Überzeugt, dass klerikale Akteure eine entschei-
dende Rolle in der Entfaltung solcher Ausschreitungen spielten, wurde das
Strafgesetzbuch dahingehend geändert, dass dem Klerus
– der die vom Land
angereisten Wähler oft begleitete – jegliche Kritik an der staatlichen Obrig-
keit untersagt war. Da dies die Übergriffe nicht beendete, wurde die eingangs
erwähnte Föderation von katholischen Vereinen gegründet in der Hoffnung,
durch legale Mobilisierungsformen Gewalt vorzubeugen27.
Die sich mehrheitlich in regionalen Zentren ereignende antiliberale
Gewalt hat in der Forschung wenig Aufmerksamkeit bekommen; stattdessen
wurden die urbanen Gewaltakte antiklerikaler Akteure untersucht, die mit
dem Antritt der pro-katholischen Regierung D’Anethan (1870) zunahmen
und oft von Demonstrationszügen sowie Katzenmusik begleitet wurden28.
Es kam nun vermehrt zu Übergriffen auf Anhänger der Katholischen Par-
tei und Fenster sämtlicher Gebäude, die als katholisch galten – darunter
der Bischofspalast, das Priesterseminar, mehrere Klöster, die Redaktion der
ultramontanen Zeitung Le Bien Public und die Häuser bekannter Katholi-
ken – wurden eingeworfen29. Tatsächlich war Gewalt ein fester Bestandteil
des liberal-oppositionellen Protestes während der Periode 1870–1878, sei es
in Form von physischer Gewalt gegen Gläubige und Objekte oder als gedank-
liche Verbindung von Katholizismus und Gewalt. Die Attacken auf Prozessi-
onen in Ostflandern im Frühjahr 1875 sind ein Beispiel der ersten Kategorie;
sie sind als Widerstand zur religiösen Besetzung des öffentlichen Raums zu
werten30. Dahingegen zeugt die Feier zum 300. Jahrestag der »Pazifikation
25 Vgl. Deneckere, Geuzengeweld, S. 87.
26 Stadtrat von Aalst an Gouverneur von Ostflandern, 18.
Juni 1866, in: RAG/PV 1851–
1870 1404/5.
27 Vgl. die Schlägerei in Dendermonde, wobei drei Liberale schwerverletzt wurden.
Bericht der Gendarmerie von Dendermonde, 6.
August 1868, in: RAG/ PV 1851–1870
1307/2. Für das Wahlrechtsystem siehe auch Romain Van Eenoo, De evolutie van
de kieswetgeving in België van 1830 tot 1919, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 92
(1979), S. 333–352.
28 Siehe auch Deneckere, Geuzengeweld, S. 63–97.
29 Vorsitzende des bischöflichen Seminars in Gent an Gouverneur von Ostflandern,
4. August 1870, in: RAG/PV 1851–1870 1404–14; Stadarchief Gent/Reeks R Poli-
tie/377. Für die antiklerikale Gewalt siehe auch Deneckere, Geuzengeweld, S.
87–97.
30 Siehe auch Michel Lagrée, Processions religieuses et violence démocratique dans
la France de 1903, in: French Historical Studies 21 (1998), H. 1, S. 77–99. Zunächst
kam es am Pfingstmontag in Oostakker nahe Gent zu einer Schlägerei zwischen
Mitgliedern der Erzbruderschaft des Heiligen Franz Xaver und Antiklerikalen. Zwei
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918