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75Von
Gewalt und Märtyrertum
durch die Struktur des belgischen Staates, die den Kommunen weitreichende
Autonomie zusicherte. Den Lokalbehörden gelang es, die Umsetzung des
Schulgesetzes teilweise zu verhindern, indem sie die Gelder für den Gemein-
deschulunterricht (Gehalt der Lehrer, Neubausubventionen, Schulprämien)
kürzten, die Einrichtung von Schulgebäuden administrativ behinderten und
bedürftigen Kindern den finanziellen Zuschlag für den Schulbesuch stri-
chen. Die Provinzverwaltungen agierten ähnlich, wenn sie kommunale Ent-
scheidungen rückgängig machen wollten. Das Staatsministerium versuchte
hier gegenzusteuern. Per königlichem Dekret annullierte es unliebsame Ver-
fügungen, traf Gegenmaßnahmen um Benachteiligungen vor Ort aufzuhe-
ben und entsandte sporadisch Kommissare für die Umsetzung der Reform.
Neben dem Schulgesetz befeuerte die zunehmend zentralistisch-autoritäre
Handlungsweise der Regierung den öffentlichen Widerstand, schränkte es
doch die Autonomie lokaler und regionaler Behörden ein. Nirgendwo war
der Protest weiter verbreitet als in Ost- und Westflandern; in Brügge sorgte
die Entlassung des katholischen Gouverneurs und die Ernennung des über-
zeugten liberalen, aber diplomatisch ungeschickten Théodore Heyvaert für
zusätzliche Ressentiments. Doch es ist nicht der Widerstand katholischer
Eliten, der hier von Interesse ist, sondern die Handlungen der Gläubigen im
Allgemeinen. Dazu gehören auch solche Katholiken, die damals noch von
politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen waren: Frauen, aber
auch Männer, die unter dem belgischen Zensuswahlrecht nicht wählen durf-
ten. Insofern war der gewaltsame Protest gegen das Gesetz von 1879 auch ein
Streben nach politischer Teilhabe.
Das Dorf Heule ist mittelalterlichen Ursprungs. Es behielt lange seinen
bäuerlichen Charakter, bis im späten 19. Jahrhundert die Industrialisierung
allmählich ankam. Die Nähe zu Kortrijk war dafür bedeutend, stieg doch die
Bevölkerungszahl durch die Ansiedlung vieler Textilfabriken und die Aus-
grabung eines Kanals, der die Stadt mit dem Schelde-Fluss verband, explo-
siv an. In Heule schlug sich die neue wirtschaftliche Dynamik u.a. in der
Errichtung einer Lehrwerkstatt nieder, die vom kommunalen Fürsorgeamt
betrieben und in einem Haus in der Peperstraat (die Ecke nannte sich »Kra-
keelhoek«) untergebracht wurde. Die Lehrwerkstatt war wenig erfolgreich,
weshalb Pfarrer Van Dorpe die Räume gegen eine geringe Miete für eine
Sonntagsschule und eine »Jugendkongregation« zugewiesen bekam. Mit dem
liberalen Regierungsantritt geriet diese kirchliche Nutzung von Gebäuden
in kommunalen Besitz in die Kritik und Ende 1879 forderte Justizminister
Jules Bara die Schließung der Sonntagsschule42. Wenig später bestätigte das
42 Für die folgende Geschichte, siehe auch »Heule« in Bisschoppelijk Archief Brugge
[im Folgenden BAB] B 365 bis; Arrondissementskommissar von Kortrijk an Kom-
munalverwaltung von Heule, 28. Oktober und 12. Dezember 1879, in: Stadsarchief
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918