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77Von
Gewalt und Märtyrertum
Dorf begleitet hatten, eilten hinzu und mit ihrer Hilfe gelangte der Kommis-
sar zum zweiten Mal ins Haus, das er sofort beschlagnahmte. Dabei wurden
sämtliche Sitzbänke zerschlagen, die Vorhänge abgerissen, ein Kruzifix von
der Wand gehängt und die Effigie eines Staatsbeamten – die Puppe ähnelte
Gouverneur Heyvaert und gehörte zu einem Theaterstück – entwendet.
Während Bouez samt Gendarmen noch im Haus beschäftigt war, began-
nen die Kirchenglocken zu läuten, etwas später gefolgt vom Fabrikspfiff, der
die Morgenpause ankündigte. Alsbald trafen etwa 1
000 Menschen, darunter
viele Arbeiter, an der Krakeelhoek ein. Erneut wurden Drohgebärden geäu-
ßert und man versuchte ins Haus zu drängen; zudem klangen Kampflieder
gegen das Gesetz Van Humbeeck an. Bouez Mahnungen zur Ruhe wurden
mit dem Werfen von Pfeifen, Steinen, Kohlen, Holzstücken und Rasen beant-
wortet. Nachdem ein Gendarm die Menschenmenge vergeblich aufgefordert
hatte, solche Angriffe zu unterlassen, schoss er zur Warnung in der Luft,
was zwar eine kurzlebige Pause erwirkte, dann aber eine Männergruppe
dazu brachte, den drei Funktionären in das Haus zu folgen und sie dort zu
bedrohen. Die Gendarmen reagierten unverzüglich. Eine erste Kugel traf den
20-jährigen Adolf Couckuyt ins Gesicht, der bald darauf verstarb. Kugel Zwei
trat in den Unterleib von Charles Duyck ein, der schwerverwundet über-
lebte. Statt die aufgebrachten Gläubigen zu bändigen, löste dieser Akt von
Staatsgewalt weitere Aggression aus, und die Protestierenden griffen nach
Stöcken und riefen um Waffen. Das Geschrei war ohrbetäubend, als Vikar
Iserbyt plötzlich auftauchte. Ihm gelang es die Menge zu beruhigen, auch
wenn sie auf dem Heimweg die Mutter des Bürgermeisters, die das Nach-
barhaus bewohnte, als »Mörderin« beschimpfte und mit Gewalt drohte. Tat-
sächlich ergaben sich in den Folgetagen trotz erhöhter polizeilicher Präsenz
weitere Anfeindungen, die sich teils als Selbstjustiz lesen lassen. So wurde
das Dienstmädchen von Frau Lagae körperlich angegriffen und das Haus des
Bürgermeisters mit Schmierparolen beschmutzt: »Das große Biest muß weg«
(gemeint war Gouverneur Heyvaert oder Minister Van Humbeeck) oder
auch »Der Bürgermeister muß tot«. Um weiteren Unruhen vorzubeugen,
wurde Couckuyt zunächst ohne kirchliche Zeremonie beerdigt.
Die Zeitungen sorgten dafür, dass der »Mord auf der Krakeelhoek«, wie
die Katholiken die Geschehnisse alsbald nannten, nicht in Vergessenheit
geriet. Zunächst organisierten die kirchennahen Medien eine Spendenak-
tion zugunsten der Opfer, die vom lokalen geistlichen Triumvirat (Pfarrer
Van Dorpe, Vikar Iserbyt und Präfekt Lagae) angeführt wurde und beinahe
1 000 Francs einbrachte. Außerdem publizierte man ein Büchlein mit der
Geschichte des Heuler »Anschlags« sowie ein Bild des Tatorts, inklusive
Angaben zu den Laufwegen der »Mörder«43. Separat wurde eine weitere
43 Le grand jour sur le drame / De moorderij van Heule.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918