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136 Péter Techet
ohne jegliche Kultur«106, »verblendete, arme Dorfbewohner«107, die unter
russischem Einfluss gestanden hätten108. Auch wenn sich die Dorfbewoh-
ner in den theologischen und kirchenrechtlichen Differenzen zwischen den
katholischen Riten bzw. zwischen dem Katholizismus und der Orthodoxie in
der Tat nicht vollkommen auskannten – diesbezügliches Wissen war beim
Wiener Nuntius auch nicht immer vorhanden109 –, wussten sie sehr wohl,
was sie vor Ort erreichen wollten: die muttersprachliche Liturgie und eine
eigene Pfarrei.
Weil aber diese Ziele innerhalb der bestehenden Ordnung nicht erreicht
werden konnten, bedienten sich die lokalen Akteure nonkonformer Formen
(wie »ziviler« Zeremonien) und punktuell physischer Gewalt, ohne dabei den
katholischen Glauben wertrational abzulehnen110. Die Gewalthandlungen
waren insofern nicht religiös motiviert, da sie nicht im Namen einer Religion
durchgeführt wurden111; sie richteten sich nicht gegen Menschen, die nicht
oder anders an eine transzendente Lehre glaubten, bzw. die der kollektiven
Sinnstiftung einer Religion oder Kirche nicht oder anders teilhaftig wur-
den. Die Akteure der lokalen Gewaltmomente wollten ursprünglich unter
demselben römisch-katholischen Glauben bzw. in derselben kollektiven
Sinnstiftung des Katholizismus die Organisation und Form der Kirche mehr
gestalten können. Weil ihnen diese Forderung verwehrt wurde, gerieten sie
immer mehr in Konflikt mit den kirchlichen Obrigkeiten. Die Gewaltmo-
mente zeigten sich somit zwar im religiösen Raum bzw. in Bezug auf religiöse
Formen und Inhalte: Die katholische Kirche stellte dabei den Raum der Kon-
flikte dar – nicht (nur) physikalisch-räumlich, sondern auch im Sinne des
Geltungsbereichs und Bezugspunkts112. Aber diese Gewaltakte wurden nicht
religiös aufgeladen. In den Gewaltmomenten zeigte sich vielmehr ein proak-
106 L’ Amico, 25. Januar 1903.
107 La Ricreazione, 16. Februar 1903.
108 L’ Avvenire, 14. März 1902. Die Zeitung berichtete über den angeblichen Besuch
einer russischen Prinzessin in der Gegend.
109 Nuntius Taliani schrieb etwa über den griechisch-katholischen Bischof Drohobe-
czky als »schismatischen Bischof«, obwohl ein griechisch-katholischer Bischof dem
Papst unterstellt (insofern keinesfalls schismatisch) ist; vgl. Brief von Nuntius Tali-
ani an Kardinal Rampolla (1. Dezember 1900), in: ASV, ANV, b. 692, fol. 282.
110 Zur Unterscheidung zwischen wertrationalem Nonkonformismus und zweckratio-
naler Nonkonformität im religiösen Bereich, siehe auch Christoph Kleine, »Reli-
giöser Nonkonformismus« als religionswissenschaftliche Kategorie, in: Zeitschrift
für Religionswissenschaft 23 (2015), H. 1, S. 3–34, hier S. 7f., 11–18.
111 Zum Verständnis der »religiösen Gewalt« als einer im Namen einer Religion durch-
geführten Gewalt, siehe auch Reinhard Schulze, Islamischer Puritanismus und
die religiöse Gewalt, in: Christine Abbt / Donata Schoeller (Hg.), Im Zeichen der
Religion. Gewalt und Friedfertigkeit in Christentum und Islam, Frankfurt
a.M.
u.a.
2008, S. 34–56, hier S. 44.
112 Zur Begrifflichkeit vom »Gewaltraum« als einem Handlungs- und Geltungsbereich
gewalttätiger Akte, siehe auch Ulrike Jureit, Raum und Gewalt. Eine Einleitung,
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918