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175Kollektive
Gewalt und die religiöse Politisierung von Bauern
hatte der Studienkollege und Ordensbruder Morawskis Stanisław Stojałowski
mit seinen Bauernzeitungen und Agrarzirkeln38. Indem Juden sich seit 1867
auch in Feldern betätigen konnten, die ihnen zuvor untersagt waren, wie
Landerwerb oder staatliche Karrieren, sich andererseits Christen in den
einst jüdischen Bereichen entfalten sollten, löste sich die klare Zuordnung
jüdischer und christlicher Beschäftigungen auf. Es entstand eine ethnische
Konkurrenz in geteilten Feldern, wo zuvor religiös begründete Separation
geherrscht hatte. War in den 1840er Jahren die Enthaltsamkeit zur zentra
len Komponente einer modernen katholischen Identität erklärt worden, so
wurde nun die Gegnerschaft zu Juden, und zwar sowohl zu konkreten Juden
als auch zu den vermeintlich jüdischen Kräften Sozialismus und Liberalis
mus zum Bestandteil der katholischen Meinungsgemeinschaft erhoben.
Mit dem Wahlsieg des Antisemiten Karl Lueger in der Bürgermeisterwahl
der Hauptstadt Wien im Jahre 1895 und im Angesicht des bevorstehenden
Siegeszugs der marxistischen Sozialdemokratie durch die Ausweitung des
Wahlrechts um eine fünfte Kurie unabhängig von Einkommen oder Besitz
in den Reichsratswahlen von 1897, vollzog der politische Katholizismus in
Galizien eine antisemitische Wende39. In den Zeitungen Prawda, Grzmot,
Pochodnia und anderen wurde ein eschatologischer Kampf zwischen Katho
liken und den jüdischen Mächten beschworen. Dieser war jedoch nicht länger
in den Kategorien eines Konflikts zwischen christlichen Werten einerseits
und den Traditionen sowie vermeintlichen Verirrungen des Judaismus ande
rerseits gefasst und damit auf Glaubensinhalte rückbezogen. Das Reden von
Ariern und Semiten, d.h. ethnischen Konzepten, durchzog nun die Texte.
Im Jahr 1897 gründete sich in Krakau die katholische Zeitschrift Antysemita
und der katholische Arbeiterverein nannte sich ab jetzt »Bund der Antise
miten«. Die katholische Presse brachte zusätzlich tausende von antijüdi
schen Hetzschriften, wie die berüchtigten Jüdischen Geheimnisse des Paters
Mateusz Jeż in Umlauf 40. Die Wahlen zum Reichsrat wurden auf dem galizi
38 Siehe auch Anna Staudacher, Der Bauernagitator Stanisław Stojałowski. Priester,
Journalist und Abgeordneter zum österreichischen Reichsrat, in: Römische histori
sche Mitteilungen 25 (1983), S. 165–202.
39 Siehe auch Tim Buchen, »Learning from Vienna Means Learning to Win«: the Cra
covian Christian Socials and the »Antisemitic Turn« of 1896, in: Quest. Issues in
Contemporary Jewish History 3 (2012), URL: <http://www.quest cdecjournal.it/
focus.php?id=302> (24.06.2019). Dem Wiener Vorbild zum offenen Bekenntnis zum
Antisemitismus folgten viele katholische Politiker in der Monarchie und selbst in
benachbarten Regionen; vgl. Ulrich Wyrwa, Antisemitic Agitation and the Emer
gence of Political Catholicism in Mantua around 1900, in: Quest. Issues in Con
temporary Jewish History 3 (2012), URL: <http://www.quest cdecjournal.it/focus.
php?id=303> (24.06.2019).
40 Vgl. Daniel Unowsky, Peasant Political Mobilization and the 1898 anti
Jewish Riots
in Western Galicia, in: European History Quarterly 40 (2010), H. 3, S. 412–435.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918