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181Kollektive
Gewalt und die religiöse Politisierung von Bauern
Ein wichtiges Motiv der wochenlangen Unruhen war offensichtlich, die
nach Emanzipation und Durchsetzung der Marktwirtschaft aufgestiegenen
Juden symbolisch zurück an den für sie vorgesehenen Platz außerhalb der
als christlich verstandenen Gesellschaft zu drängen. Auch der ständige Ver
weis auf die Ermächtigung der Bauern durch die beiden höchsten Autoritä
ten Kaiser und Papst repetierte die Idee einer christlich vorgestellten Ord
nung, aus der Juden exkludiert wurden. Denn die ostentative Frömmigkeit
des Kaisers war in Galizien ebenso bekannt, wie sein Name Franciszek Józef
unter christlichen Bauern verbreitet war und durch geteilten Glauben und
Namen doppelte Identifikationsfläche bot. Verängstigung und Ausgrenzung
wurden auch performativ erzeugt. An unzähligen Orten erzeugten Chris
ten Katzenmusik und karnevaleske Umzüge, bei denen Schmähgesänge
und Steinwürfe jüdische Häuser demolierten, markierten und damit aus
der Gemeinschaft ausschlossen51. Selbst der festliche Umzug mit Musik in
Kalwarya wurde hierzu umfunktioniert. Diese rituellen Bestrafungen waren
auch in ihrer Begrenzung der körperlichen Übergriffe alles andere als harm
los. So machten in Koszarowa Mitte Juni über zehn Tage lang jede Nacht
bis zu zweihundert Christen Krach vor jüdischen Häusern, verjagten und
bedrohten den Ortsvorsteher, der versucht hatte zu intervenieren und dran
gen mit einer Ziege in ein Haus ein, wo sie drohten, die Bewohner zu fesseln
und ihre Fußsohlen mit Salz zu bestreuen, damit die Ziege sie ablecke52. In
Targanice belagerten Bauern das Haus der Familie Feiner durchgehend vom
10. bis 16. Juni. Der Bericht des Staatsanwalts an das Justizministerium in
Wien beschrieb die Straftaten und seine Auswirkungen auf die betroffene
jüdische Familie wie folgt:
Sie schrieen [sic!], johlten, klatschten gegen Bretter und trommelten auf eigens herbei
geholten Kasten und verschiedenen anderen hölzernen und eisernen Gegenständen
und verursachten dadurch einen weit vernehmbaren Höllenlärm. Während der Kat
zenmusik wurde dem Israeliten gedroht [sowie] Tabak und Cigarren […] erzwungen.
[…] Durch dieses Treiben wurde die Familie Feiner in eine große Furcht und Unruhe
versetzt […] [zumal] die Ehegattin des Feiner im Wochenbette lag. Die Exzendenten
ließen nicht nach, wiewohl Feiner dieselben auf diesen Umstand aufmerksam machte
und sie mit Rücksicht auf seine krank danieder liegende Gattin um Abstand von den
Excessen inständig bat. Um den weiteren Gewalttätigkeiten auszuweichen, sah sich
Feiner genötigt, Targanice gänzlich zu verlassen. Er übersiedelte in eine andere Stadt 53.
51 Es handelte sich dabei um »exclusionary riots«; vgl. Christhard Hoffmann u.a.
(Hg.), Exclusionary Violence. Antisemitic Riots in Modern German History, Ann
Arbor 2002, S. 179–182.
52 AGAD Min. Spraw. 307, S. 126.
53 Auch im benachbarten Jastrzębia verließ mit Moses Schöngut ein Jude seine Heimat
aufgrund des nächtlichen Terrors. AGAD Min. Spraw. 309.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918