Page - 204 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
Image of the Page - 204 -
Text of the Page - 204 -
204 Katharina Stornig
tums wesentlich auf die Sündenlehre in Verbindung mit einem pessimisti-
schen Kinderbild, welches trotz vielfacher Reformansätze und der Verbrei-
tung dezidiert positiver Vorstellungen von Kindern und Kindheit im langen
19. Jahrhundert und auch darüber hinaus einflussreich blieb65. Diesem
christlichen Bild des Kindes als Sünder zufolge galten Kinder und Jugendli-
che als mit der Erbsünde belastet beziehungsweise zu sündhaftem Verhalten
fähig, ohne jedoch die erforderlichen Mittel zur eigenständigen Bekämpfung
der Sünde ausgebildet zu haben. Körperliche Züchtigung wurde demnach
von vielen als unverzichtbare Disziplinierungsmaßnahme propagiert66. Sie
wurde zur Aufgabe oder sogar Pflicht paternalistischer Autorität erklärt,
welche diesem Verständnis nach eben erforderlich war, um schwache und
sündenanfällige Kinder auf das zu führen, was Christen und Christinnen
als den einzig »richtigen« Weg verstanden67. Die Legitimation von Gewalt
gegenüber Kindern und Jugendlichen auf Tumleo muss zunächst im Kontext
genau dieser Denktradition verstanden werden. Die grundsätzliche Über-
zeugung von der Notwendigkeit körperlicher Bestrafung in der religiösen
Erziehung erklärt auch die eingangs erwähnten Bibelzitate von Präfekt Lim-
brock an Schwester Valeria. Darunter fand sich
u.a. Vers 23,13 aus dem Buch
der Sprüche, der eine explizite Verbindung zwischen Schlägen mit der Rute
und dem christlichen Versprechen von Erlösung herstellte68.
Darüber hinaus zeugt Erdwegs Beschreibung indigener Erziehungsprak-
tiken auf Tumleo jedoch auch von einer grundlegenden Haltung europäisch-
christlicher Ignoranz und Überheblichkeit. Offenbar konnte oder wollte er
sich nicht mit indigenen Formen der Erziehung, Bildung und Sozialisation
auseinandersetzen, weil er in diesen das für die katholischen Missionare und
Missionsschwestern so zentrale Element des Gehorsams vermisste: »Von
kindlichem Gehorsam weiß der kleine Tumleo nicht viel. Schon früh lernt
er es, seinem Eigenwillen nachzugehen, den Trotzkopf zu spielen, das zu
65 Vgl. Hermsen, Faktor Religion, S.
124–134; Eugen Paul, Geschichte der christlichen
Erziehung, Bd. 2, Freiburg u.a. 1995, S. 204f. Die bei Missbrauchsfällen vor Gericht
gutachtende Kinderärztin Patricia Brennan plädierte zuletzt in einem Artikel für die
endgültige Verabschiedung der christlichen Konzeption des sündhaften Kindes, um
Missbrauch in kirchlichen Kontexten effektiv zu bekämpfen; vgl. Patricia Brennan,
Religion, Children and Violence. Fallen Angels or Risen Apes?, in: Church Studies 14
(2008), H. 2, S. 1–14, hier S. 8f.
66 Vgl. Hermsen, Faktor Religion, S. 132.
67 Vgl. Christina de Bellaigue, Faith and Religion, in: Colin Heywood (Hg.), A Cul-
tural History of Childhood and Family in the Age of Empire, London u.a. 22014,
S. 149–166, hier S. 154f.
68 Die Notiz auf dem Zettel lautete: »Entzieh dem Knaben die Züchtigung nicht; denn
wenn du ihn mit der Rute schlägst, wird er nicht sterben. Schlägst du ihn mit der
Rute, so wirst du seine Seele von der Hölle erlösen. Sprüche 23,13«; siehe den beige-
legten Zettel, Sr.
Valeria Dietzen, 11.
Dezember 1902, in: AG
SSpS PNG 6201, Korres-
pondenz 1899–1910.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918