Page - 210 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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210 Katharina Stornig
Zum anderen wurde deutlich, dass die Qualität und Quantität der einge-
setzten Gewalt durchaus zu Debatten führen konnten, welche im untersuch-
ten Fall bis nach Europa reichten. Offenbar ging das Vorgehen auf Tumleo
über »normale« Verhältnisse von Schlägen in der Schule hinaus. Die Ana-
lyse hat gezeigt, dass dies insbesondere mit dem selbstgestellten Anspruch
der Missionare und Missionsschwestern zu erklären ist, Seelen zu retten.
Im festen Glauben, den einzigen und wahren Weg zur Erlösung zu ken-
nen, griffen Schwester Valeria Dietzen und andere auf Gewalt zurück, um
das zu erreichen, was sie als »Zucht und Ordnung« verstanden. Auf Tum-
leo führten um 1900 also gerade das universale katholische Heilsverspre-
chen in Kombination mit dem Wahrheitsanspruch der katholischen Lehre
zur Anwendung von Gewalt, weil der Weg zur Erlösung mit den kulturellen
und sozialen Praktiken vor Ort nicht vereinbar schien. Die Missionare und
Missionsschwestern waren
– zumindest in den hier untersuchten, ersten Jah-
ren auf Tumleo – nicht in der Lage, ihre eigenen Vorstellungen und Ideale
an lokale Realitäten anzupassen beziehungsweise indigene Praktiken nicht
abwertend gegenüberzutreten oder diese wenigstens zu tolerieren. Stattdes-
sen verdammten sie das, was sie sahen, als zutiefst sündhaft und griffen auf
Gewalt zurück, um die Kinder Tumleos von Handlungen abzuhalten, die der
damaligen katholischen Morallehre widersprachen. Das steigerte sich soweit,
dass Schwester Valeria Dietzen zunehmend pauschale Urteile über die indi-
gene Bevölkerung Neuguineas fällte und »Unzucht« als tief in deren sexu-
alisierten Körpern verwurzelt sah. Schließlich muss ergänzt werden, dass
zudem eine Reihe von weiteren, nicht primär religiös bedingten Aspekten
für die untersuchten Gewalthandlungen eine Rolle spielten. So werden in den
Quellen implizit und explizit auch wiederholt Überforderung, Anpassungs-
probleme, Sprachschwierigkeiten und Angst aufseiten der Missionare und
Missionsschwestern deutlich, welche diese ersten Jahre auf Tumleo wesent-
lich prägten.
Fragen wir nun jedoch nach dem spezifisch Katholischen an der Gewalt
und den Debatten über Gewalt auf Tumleo um 1900, so wird unser Augen-
merk vor allem auf die zentrale Rolle und die erheblichen Auswirkungen
eines bestimmten, religiös aufgeladenen Konzepts von Gehorsam gelenkt.
Während die Quellen gezeigt haben, dass einzelne Missionsschwestern die
Anwendung von als übermäßig empfundenen Prügeln als Strafe auch kriti-
sierten und stattdessen ein gewaltloses Vorgehen anregten, war es letztlich
der Verweis auf Gehorsam, der diese Ansätze erfolglos machte. Gehorsam
bildete in der untersuchten Fallstudie nicht nur einen Schlüsselbegriff – z.B.
als Erziehungsziel, als Rechtfertigung oder als Forderung an die Kinder und
Gläubigen –, sondern wurde im hierarchischen und autoritär organisierten
Raum des Ordens und der Mission auch als Prinzip effektiv wirksam. Die
Berufung auf Gehorsam, der in so einer überhöhten Form freilich auch in
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918