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221Der
Bahnfrevel von Trillick
Interessen befördern wollten. Dass der Vorfall im Sinne einer »Gräuelpoli-
tik« verstanden wurde, verdient besondere Beachtung. In der Zeit nach der
großen Hungersnot gewann die Rhetorik der konfessionellen Gegnerschaft
an Bedeutung. Verschärft wurde diese Entwicklung durch die Verwüs-
tungen, die die Hungersnot in der irischen Gesellschaft angerichtet hatte,
durch das Aufkommen einer organisierten irisch-nationalistischen Politik
und einer selbstbewusster auftretenden katholischen Kirche, wie auch durch
einen erstarkenden evangelikalen Protestantismus und die Wiedergeburt des
Oranierordens. Diese regionalen oder nationalen Faktoren wurden ihrerseits
geprägt durch weitreichende Wandlungsprozesse in der britischen und iri-
schen Gesellschaft, wie etwa die Demokratisierung, den Machtzuwachs des
Staates und den technischen Wandel, die alle zu einem angespannteren poli-
tischen Klima beitrugen.
Die Grundpositionen der nordirischen Politik waren unterdessen kei-
neswegs mit religiösen Standpunkten gleichzusetzen. Sowohl die Konser-
vative als auch die Liberale Partei hatten Unterstützer in beiden konfessio-
nellen Lagern. Die politische Landkarte wurde in den 1850er Jahren noch
unübersichtlicher, als eine unabhängige »Irish Party« auf den Plan trat, eine
lose Gruppierung irischer Liberaler, die (ohne Erfolg) versuchten, Einfluss
zu gewinnen, indem sie sich Projekten der Agrarreform und der religiösen
Gleichheit verschrieben8. Kurzum, die damalige heikle religionspolitische
Situation in Irland speiste sich aus einer Vielzahl kurz- und längerfristiger
Entwicklungen. Dabei nahm nach der Katholikenemanzipation insbeson-
dere in Ulster die konfessionelle Prägung der Politik zu; hier versuchte eine
einflussreiche Minderheit konservativer protestantischer Politiker wie der
Earl of Enniskillen mit dem eingängigen Narrativ einer katholischen Gefahr,
liberalen wie nationalistischen Tendenzen auf der Insel entgegenzutreten.
Die Reaktionen auf den Bahnfrevel von Trillick zeigen, wie schwer es vik-
torianischen Meinungsführern fiel, die Ereignisse außerhalb des katholisch-
protestantischen Schemas zu begreifen.
Es verwundert kaum, dass die Geschichte des Bahnfrevels in der ultrapro-
testantischen und den Oraniern nahestehenden Presse auf besondere Reso-
nanz stieß. Für sie lag die Sache ganz klar: Bei Trillick hatte sich abermals
erwiesen, dass Katholiken treulose Barbaren waren. Solche antikatholischen
Schuldzuweisungen konnten in den konservativen Kreisen der britischen
Inseln mit beträchtlicher Zustimmung rechnen. Mit Zorn wurde dort ver-
folgt, wie die Kirche die katholische Hierarchie in England wiedereinsetzte,
die britische Regierung ihre finanzielle Unterstützung für das Priestersemi-
nar in Maynooth erhöhte, und die katholische Kirche in Irland unter dem
ultramontanen Erzbischof von Dublin, Paul Cullen, selbstbewusster an die
8 Vgl. John H. Whyte, The Independent Irish Party, 1850–9, Oxford 1958.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918