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238 Sean Farrell
von Gräuelpolitik bereits wirkmächtige Vorstellungen sowohl unter Briten
als auch Iren über den katholisch-protestantischen Konflikt in Ulster ver-
stärkte. Diese Deutungen pflanzten sich dann in den Debatten fort, die sich
sowohl mit den häufiger werdenden und mithin tödlichen Ausschreitungen
im viktorianischen Belfast als auch mit dem indischen Aufstand von 1857
beschäftigten56. Wir werden womöglich nie erfahren, was sich tatsächlich bei
Trillick zugetragen hat, doch die Geschichten, die sich um den Vorfall und
seine Folgen rankten, verdeutlichen, welche Macht und Anziehungskraft der
konfessionelle Gegensatz ausübte, der im viktorianischen Irland die wich-
tigste Zugehörigkeit markierte.
Der Bahnfrevel von Trillick unterstreicht zudem die Hybridität konfes-
sioneller Konflikte im 19. Jahrhundert. Religion spielte dabei eine entschei-
dende Rolle. Das mag selbstverständlich scheinen, war Religion doch das
vorrangige Kriterium zur Unterscheidung nördlicher Gemeinschaften, die
schon seit geraumer Zeit zugleich »zusammen und getrennt lebten«57. Doch
es handelte sich um mehr als Äußerlichkeiten. Wenn die Vertreter der orani-
schen und ultraprotestantischen Sache von ihren Kanzeln und in ihren Zei-
tungen ihre Anhänger zu mobilisieren suchten, so taten sie dies in nicht nur
historischen, sondern auch religiösen Begriffen, mit emotional aufgeladen
Erzählungen von irisch-katholischer Gewalt und von der von der römisch-
katholischen Kirche ausgehenden politischen und geistigen Gefahr. Die
Beteiligung des Oranierordens gab den Fürsprechern der katholischen Sache
jedoch eine Steilvorlage, die sie wirksam zu nutzen verstanden, indem sie
den Extremismus der Oranier anprangerten und in den populären Wochen-
zeitungen Dublins Ehre und Recht des Katholizismus verteidigten. Als die
sieben Beschuldigten im Sommer 1855 aus der Haft freikamen, dominierte
dieses katholische Narrativ. Es nimmt kaum Wunder, dass diese Geschichte
bestens zu zwei der mächtigsten Entwicklungen im Irland der Zeit nach der
großen Hungersnot passte: dem Bestreben der katholischen Kirche, ihren
rechtmäßigen Platz in der irischen Gesellschaft einzunehmen, und dem
Wunsch einer wachsenden irisch-katholischen Mittelschicht nach bürgerli-
cher Anerkennung.
Hingegen fehlen in dieser Diskussion die wichtigsten Protagonisten
selbst – sowohl die Opfer als auch die vermeintlichen Täter. Die Beschul-
digten zogen rasch fort; einige von ihnen, hieß es, seien nach Amerika aus-
gewandert. Mary Mitchell, die junge Witwe des getöteten Heizers, wurde
zeitweilig zu einer Gallionsfigur des ultraprotestantischen Lagers. Spenden
56 Siehe auch Jill C. Bender, The 1857 Indian Uprising and the British Empire, Cam-
bridge 2016; Mark Doyle, Communal Violence in the British Empire, London 2016.
57 Vgl. Alan Ford, Living Together, Living Apart. Sectarianism in Early Modern Ire-
land, in: Alan Ford / John McCafferty (Hg.), The Origins of Sectarianism in Early
Modern Ireland, Cambridge 2005, S. 1–23.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918