Page - 293 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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293Gewalt,
Religion und Gegenrevolution in Spanien
republikanischer Nationalideen verdeutlicht, warum das Kulturkampf-Para-
digma so häufig zur Erklärung der Bourbonen-Restauration (1875–1923)
herangezogen wird. Doch mit der Verfassung der Restauration wurde eine
parlamentarische Monarchie eingesetzt, und Katholiken hatten liberale
Institutionen zu respektieren oder wenigstens zu dulden. Die Unterschiede
waren selbst im sexenio deutlich, als die Freiheit der Religionsausübung, wel-
che die kurzlebige Verfassung von 1869 eingeführt hatte, von den Integralis-
ten verurteilt, von verschiedenen konservativen Gruppierungen und katholi-
schen Intellektuellen jedoch als »kleineres Übel« akzeptiert wurde.
Der Integralismus stand hinter der scharfen Positionierung Papst Pius’
IX.
(1846–1878) zugunsten des kirchlichen Primats. Obschon durch seinen
Nachfolger Leo XIII. (1878–1903) politisch modifiziert, blieb diese Haltung
doch bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil maßgeblich. Diese breite inte-
gralistische Position sollte allerdings nicht den Blick verstellen auf ernstge-
meinte Versuche zu einem Einvernehmen mit der weltlichen Gewalt, insbe-
sondere dem liberalen Konstitutionalismus, in der Regel unter dem Banner
des »kleineren Übels«15. Historiker der »katholischen Nation« sind zwar
bemüht, eine Vielfalt politischer und religiöser Haltungen nachzuzeichnen,
doch die binäre Struktur der Kulturkämpfe polarisiert und homogenisiert
zugleich. Unterschiedliche historische Positionen werden in dieses Raster
gepresst, wobei ihre Unterschiede nach innen wie außen verwischt werden.
Dies hat zur Folge, dass die religiöse Frage als bloß ein weiterer Aspekt der
Leitdifferenz von Rechts und Links gesehen wird, was durch die parteiliche
Frontenbildung im spanischen Fall noch begünstigt wird.
Nicht nur in Spanien gab es innerhalb des Katholizismus sowohl inte-
gralistische als auch vergleichsweise liberale Strömungen. Innerhalb aller
Konfessionen kam es im ausgehenden 19.
Jahrhundert zu Richtungskämpfen
zwischen Konservativen und Liberalen. Allerdings verhinderte in Spanien
die Schwäche des Staates eine »europäische« Versöhnung mit dem parlamen-
tarischen Liberalismus16. Es hielten sich eigentümliche politische Optionen,
besonders der Anarchismus einerseits und der Carlismus andererseits, die
beide Gewalt als Mittel zur Kontrolle, Reinigung und Erneuerung der Gesell-
schaft in Kauf nahmen. Im Anarcho-Syndikalismus erfuhr die revolutionäre
Tradition eine Wiederbelebung; ihm gegenüber stand mit dem Carlismus
eine unversöhnliche gegenrevolutionäre Haltung.
Es überrascht demnach kaum, dass es in diesen rhetorisch und medial
aufgeladenen »Kulturkämpfen« sporadisch zu handfesten Auseinanderset-
15 Unter Leo XIII. besagte der Begriff des »Akzidentismus«, dass Katholiken sich dem
politischen Regiment gegenüber gleichgültig verhalten könnten.
16 Diese Argumentation habe ich weiter ausgeführt; siehe auch Mary Vincent, Spain
1833–2002. People and State, Oxford 2007.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918