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294 Mary Vincent
zungen in den Städten kam. Tatsächlich lassen sich Gewalt und Publikati-
onswesen in Beziehung setzen. Die antiklerikalen Ausschreitungen, die sich
als mobile, flüssige Form des Protests 1901 über Spanien ausbreiteten, wur-
den ausgelöst durch die ausführliche Berichterstattung zum »Fall Ubao«, in
dem es um das Recht einer jungen Frau ging, ohne Zustimmung ihrer Mutter
in ein Kloster einzutreten. Zur gespannten Atmosphäre trug das Bühnen-
stück Electra von Benito Pérez Galdós bei. Während der Premiere wurde in
einer Szene, in welcher der Held überlegt, die Mauern des Klosters nieder-
zubrennen, um seine Geliebte zu befreien, von den Rängen eine Streichholz-
schachtel auf die Bühne geworfen unter Rufen von »Nun mach’ schon!«17.
Es folgten Ausschreitungen, flankiert von versuchter Brandstiftung und
anti-jesuitischen Protesten, in deren Zuge auch die Residenzen des Ordens
in ganz Spanien mit Steinen beworfen wurden18. Der klerikale Feind, den
man sich zunächst in Gestalt eines Carlisten vorgestellt hatte, mutierte nun,
angestachelt durch Fiktion und Polemik, zu einem Jesuiten.
Die dem »Kulturkampf« zugrundeliegende Logik legt den Schluss nahe,
dass rhetorische und symbolische Konflikte an die Stelle physischer Gewalt
traten. Tatsächlich aber lässt sich keine solche lineare Entwicklung feststel-
len. Gewisse Vorfälle wiederholten sich mit unterschiedlichen Begründun-
gen – z.B. die Verwandlung des Feindbildes von einem Carlisten in einen
Jesuiten –, folgten dabei aber ähnlichen Handlungsmustern, indem etwa
besonders Klöster angegriffen wurden. Bei der »Tragischen Woche« von Bar-
celona 1909 handelte es sich um einen spontanen Ausbruch antiklerikaler
Gewalt seitens der Massen, der sich gegen kirchliches Eigentum richtete19.
Begonnen hatte die »Tragische Woche« als Generalstreik, der sich gegen die
Einberufungen zum Kolonialkrieg in Marokko richtete, und die Eskalation
in Form antiklerikaler Gewalt geschah entgegen den Wünschen der Anfüh-
rer des Streiks. 49 Brandanschläge trafen mindestens 30 Klöster und 21 Kir-
chen, während Gerichte, Wohnhäuser der reichen Bürger und Geldinstitute
verschont blieben20. Gleich den Kirchen handelte es sich bei ihnen um nahe-
liegende Ziele, die kaum geschützt, leicht auszumachen und in Marx’ schen
17 Vgl. Enrique Sanabria, Republicanism and Anticlerical Nationalism in Spain,
Basingstoke 2009, S. 131–134, 165; Eduardo González Calleja, La razón de la
fuerza. Orden público, subversion y violencia política en la España de la Restaura-
ción, 1875–1917, Madrid 1998, S. 329–333.
18 Vgl. Manuel Suárez Cortina, Anticlericalismo, religion y política durante la Res-
tauración, in: La Parra López / Suárez Cortina (Hg.), El anticlericalismo español,
S. 127–210, hier S. 153–159.
19 Siehe auch Joan Connelly Ullman, The Tragic Week. A Study of Anticlericalism
in Spain, 1875–1912, Cambridge MA 1968; José Alvarez Junco, El emperador del
Paralelo. Lerroux y la demagogia populista, Madrid 1990, S. 375–418.
20 Vgl. Joaquín Romero Maura, La Rosa de Fuego. Republicanos y anarquistas. La
politica de los obreros barceloneses, 1899–1909, Barcelona 1975, S. 515f., 574.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918