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310 Mary Vincent
Dämonologien« am Werke sieht, welche die »Vernunft« verdrängten69. Die
Religion, so der Tenor dieser Lesarten, heizt Konflikte an und trägt zur Eska-
lation urtümlicher Rachemechanismen bei, die Mayer mythisch als »Furien«
bezeichnet. Solche Analysen erkennen die Bedeutung religiöser Leidenschaf-
ten und versuchen, sie zu berücksichtigen, doch sind sie nicht in der Lage,
einen beliebigen »religiösen« – oder, genauer, politisch-religiösen – Konflikt
von einem anderen zu unterscheiden.
Die Beziehung zwischen der Religion und dem Mythischen ist komplex,
umfasst sie doch nicht nur Vorstellungen der Transzendenz, sondern auch,
zumal im Christentum, eine präzise Eschatologie. Mochten die rationalis-
tischen Zeitgenossen auch jegliche mythische Macht leugnen – und so den
Schlüssel zur Macht der Religion preisgeben – machten die Apologeten der
Religion umso mehr daraus. Auf einer Ebene lässt sich dies an der Ansprache
an die Sinne, durch die sich die Religiosität des 19. Jahrhunderts auszeich-
nete, erkennen
– etwa in der prachtvollen Raumgestaltung der Kirchen, dem
Einsatz von Musik, Licht und Düften oder der Inszenierung von Wallfahrts-
orten wie Paray. Die Religion sprach die Phantasie jedoch auch auf einer tie-
feren Ebene an, insofern nämlich sie sich mit Ursprungsmythen und dem
Sündenfall, der Natur des Menschen und dem Opfer beschäftigte. Hierin
lagen besonders mächtige Ansporne zum »heiligen Krieg«, denn der Griff zu
den Waffen zum Schutz der Religion forderte Opfergewalt: Kein Kreuzzug,
der die Toten nicht als Märtyrer rühmte.
Weder die Anziehung noch die Langlebigkeit der Weltsicht de Maistres
lassen sich ohne Berücksichtigung der augustinischen Theologie verstehen.
Die Ursünde bot eine immanente Erklärung für den heillos-chaotischen
Zustand der Welt, während die Metapher der »zwei Städte« sich mühelos
auf gegenwärtige Antagonismen übertragen ließ, ob nun zwischen politi-
schen Lagern oder bewaffneten Parteien. Die Verbreitung dieser Weltsicht
folgt keiner linearen Chronologie. Während die von de Maistre und Donoso
Cortés theoretisch gefasste Notwendigkeit von Ordnung und straffem Regi-
ment zunächst unter jenen, die sich vor sozialen Umbrüchen fürchteten,
Zustimmung fand, hatten solche Gedanken in Zeiten der Unordnung und
des Konflikts doch breitere Resonanz. Es war dies auch eine Zeit spektaku-
lärer prophetischer Ereignisse – am berühmtesten sind die Marienerschei-
nungen – durch die sowohl Immanenz als auch die Macht Gottes geltend
gemacht werden konnten70. Gott verfolge seine Zwecke jenseits historischer
69 Vgl. Mayer, Furies, S. 206f., 323–370, Zitat auf S. 324; Simon Schama, Citizens.
A Chronicle of the French Revolution, London 1989, S. 693, 697.
70 Siehe auch David Blackbourn, The Marpingen Visions: Rationalism, Religion and
the Rise of Modern Germany, London 1993; Harris, Lourdes.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918