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100 III. Das Recht zu sündigen
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
jedenfalls und nicht mehr nur » in der Regel « eine ärztliche Untersu-
chung vorgesehen.393
Das starre Entweder-Oder im Hinblick auf die geistige Gesundheit
oder Erkrankung stieß in der Gerichtsmedizin und Psychiatrie auf Ab-
lehnung. Auch die Kriminologie und die Strafrechtsreformbewegung
des 20. Jahrhunderts sollten für eine ( Wieder- ) Anerkennung der ver-
minderten Zurechnungsfähigkeit eintreten. In diesem wie auch in an-
deren Konflikten um die strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeitsbe-
stimmungen traten zwei wesentliche Problemfelder klar zu Tage: Die
gegensätzlichen Begriffswelten der Rechtswissenschaft und der forensi-
schen Psychiatrie waren nur schwer in Einklang zu bringen, da die psy-
chiatrische Wissenschaft die von der Rechtsordnung vorgestellte ein-
deutige Grenzziehung zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit
nicht kannte.394 Darüber hinaus wurde gerade im Hinblick auf die Be-
stimmung der Zurechnungsfähigkeit die Frage nach der Vormachtstel-
lung zwischen Medizinern beziehungsweise Psychiatern und Juristen
verhandelt. Schließlich ging es darum, welche der beiden Disziplinen
letztgültig über die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer Person zu
entscheiden hatte.395
393 Vgl auch Rulf Friedrich, Die österreichische Strafproceßordnung vom 23. Mai 1873
( 1874 ) 164; Mitterbacher Julius / Neumayer Vincenz, Erläuterungen zur Strafprozeß-
Ordnung vom 23. Mai 1873 sammt dem Gesetze vom 23. Mai 1873 betreffend die Bil-
dung der Geschwornenlisten ( 1874 ) 310. Die Strafprozeßnovelle 1931 ( Bundesgesetz
vom 23. Dezember 1931 zur Vereinfachung der Strafrechtspflege, BGBl 1932 / 12 ) ver-
langte zur Untersuchung des Geisteszustandes regelmäßig nur mehr ein ärztliches
Gutachten, nur in Ausnahmefällen waren zwei Ärzte heranzuziehen ( Art I Z 15 ).
394 Vgl Müller Christian, Verbrechensbekämpfung 37. Siehe auch Gschwend Lukas, Ge-
schichte 281 f.
395 Vgl Freis David, Homosexualität und Männlichkeit im Spannungsfeld von Justiz,
Psychiatrie, Militär und Adel. Ein Fall aus der forensischen Militärpsychiatrie des
Ersten Weltkriegs, onlinejournal kultur & geschlecht # 7, 2001, 4, < http: / /www.
ruhr-uni-bochum.de / genderstudies / kulturundgeschlecht / pdf / Freis_Homosexual
itaet_und_Maennlichkeit.pdf > [ 4. August 2015 ] Zum Kompetenzstreit zwischen
Ärzten und Juristen vgl auch Greve Ylva, Verbrechen 297 ff.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik