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Das österreichische Strafverfahrensrecht in der Zwischenkriegszeit
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
eine » pathologische Erscheinung im Triebleben « attestierte, » die in
Verbindung mit einem gesteigerten Sexualempfinden das sittliche
Hemmungsvermögen herabzumindern vermag «.882 Aus diesem Grund
wandte das Gericht Art VI der Strafprozessnovelle 1918 an. Diese Be-
stimmung erlaubte es bei Vorliegen mildernder Umstände, die einem
SchuldausschlieĂźungs- oder Rechtfertigungsgrund nahekamen, statt
auf Kerker auf strengen Arrest zu erkennen. DarĂĽber hinaus wurde die
Vollstreckung der Strafe gem §§ 1 und 2 des Gesetzes über die bedingte
Verurteilung vorläufig aufgeschoben und für Ludwig A. eine dreijährige
Probezeit bestimmt. Der 38-jährige Knecht Ignaz M. wurde dagegen am
22. September 1923 im vereinfachten Verfahren vor dem Einzelrichter
zur unbedingten Strafe des schweren Kerkers in der Dauer von sieben
Monaten, verschärft durch einen Fasttag monatlich, verurteilt. Er hatte
gestanden, in den zwei Monaten vor seiner Verhaftung wiederholt mit
den noch nicht vierzehn Jahre alten Söhnen seines Dienstgebers unsitt-
liche Handlungen begangen zu haben.883
Nachdem die Geltungsdauer der Bestimmungen ĂĽber das verein-
fachte Verfahren 1926 zunächst nicht mehr verlängert worden war,
führte die 2. Strafprozeßnovelle 1934 884 abermals als temporär gedachte
Vorschriften ĂĽber das vereinfachte Verfahren in Verbrechens- und Ver-
gehensfällen ein.885 Bei Delikten, die nicht dem Geschworenengericht
zugewiesen waren und bei denen das Strafgesetz keine mindestens fĂĽnf-
jährige Kerkerstrafe androhte, konnte der Staatsanwalt Antrag auf Be-
strafung im vereinfachten Verfahren stellen, wenn anzunehmen war,
dass die zu verhängende Strafe ein Jahr Freiheitsstrafe nicht übersteigen
oder eine Geldstrafe sein würde. § 483 StPO 1873 idF 2. Strafprozeßnovelle
1934 schränkte den Strafantrag des Staatsanwaltes auf Fälle mit leichter
882 OĂ–LA, BG / LG Linz, Sch 286, Vr VI 57 / 21, Urteil vom 11. November 1921. Zu diesem
Fall ist lediglich das Urteil erhalten.
883 Vgl OĂ–LA, BG / LG Linz, Sch 301, Vr XII E 1062 / 23, Urteil vom 22. September 1923.
884 Verordnung der Bundesregierung vom 9. Februar 1934 ĂĽber die EinfĂĽhrung des
vereinfachten Verfahrens in Verbrechens- und Vergehensfällen ( 2. Strafprozeßno-
velle vom Jahre 1934 ), BGBl II 1934 / 82.
885 Die Geltung der Vorschriften über das vereinfachte Verfahren war zunächst in
Art IV 2. Strafprozeßnovelle 1934 auf die Zeit vom 5. März 1934 bis zum Ende des
Jahres 1935 festgelegt. Durch das Bundesgesetz, womit die Geltungsdauer der Vor-
schriften über das vereinfachte Verfahren in Verbrechens- und Vergehensfällen
verlängert wird, BGBl 1935 / 428, wurde sie auf unbestimmte Zeit verlängert. Ihr
AuĂźerkrafttreten sollte durch Verordnung der Bundesregierung bestimmt werden.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik