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222 V. Das Verfahren
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
Mangels eines eigenen Jugendgerichts beziehungsweise eigener Ju-
gendrichter fand daher auch die Verhandlung über die drei jüngsten
Beschuldigten im gesamten Untersuchungszeitraum, die dreizehnjäh-
rigen Franz M. und Ignaz I. sowie die elfjährige Maria D. beim Landes-
gericht Linz im vereinfachten Verfahren statt. Gegen die nach Straf-
gesetz 1852 jeweils strafmündigen Mitbeschuldigten wurde im selben
Strafverfahren verhandelt. Alle drei Verfahren endeten 1925 mit einem
Freispruch für die Unmündigen. Im Fall von Franz M. erfolgte der Frei-
spruch wegen des Rücktritts des Staatsanwalts von der Anklage,916 hin-
sichtlich des Ignaz I. wurde er damit begründet, dass » der Unmündige
den Eindruck eines körperlich zurückgebliebenen Jungen machte, der
infolge seiner vernachlässigten Erziehung auch nicht die geistige Reife
vorweist, um überhaupt das Verbrecherische seiner Handlungsweise
begreifen zu können. « 917 Dagegen wurde die elfjährige Maria D. freige-
sprochen, weil ihr 1925 keine strafbare Handlung nachgewiesen wer-
den konnte: Jene Handlungen, die im März 1924 stattgefunden hatten
und in denen das Gericht » zweifellos schwere Unzüchtigkeiten er-
blickt[ e ] « 918, waren aber bereits verjährt: Da Maria D. zum Tatzeitpunkt
das vierzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, galt die Tathand-
lung, die nach Ansicht des Gerichts den Tatbestand des § 129 I b StG
1852 erfüllte, gem § 237 StG 1852 als Übertretung. Als solche unterlag sie
gem § 532 StG 1852 einer dreimonatigen Verjährungsfrist, die bereits
verflossen war.919
Nachdem der Strafrechtsausschuss den Umgang mit straffälligen Ju-
gendlichen in Österreich als » so ziemlich [ den ] rückständigste[ n ] in der
ganzen zivilisierten Welt « 920 eingestuft hatte, wurde 1928 schließlich das
Gesetz über die Behandlung junger Rechtsbrecher ( Jugendgerichtsge-
setz – JGG 1928 ) 921 erlassen. Es stellte eine Abkehr vom Vergeltungsstraf-
recht und eine Hinwendung zu einem pädagogisch orientierten Zweck-
strafrecht dar.922 Die Sonderbestimmungen über das Strafverfahren in
916 Vgl OÖLA, BG / LG Linz, Sch 312, Vr VI E 1214 / 25, Urteil vom 30. September 1925.
917 OÖLA, BG / LG Linz, Sch 310, Vr VI E 523 / 25, Urteil vom 28. April 1925.
918 OÖLA, BG / LG Linz Sch 310, Vr VI E 429 / 25, Urteil vom 20. Mai 1925.
919 OÖLA, BG / LG Linz, Sch 310, Vr VI E 429 / 25, Urteil vom 20. Mai 1925.
920 163 BlgStenProtNR III. GP 1.
921 Bundesgesetz vom 18. Juli 1928 über die Behandlung junger Rechtsbrecher ( Jugend-
gerichtsgesetz ), BGBl 1928 / 234.
922 Vgl Kadečka Ferdinand, Das österreichische Jugendgerichtsgesetz mit den Motiven
und der Durchführungsverordnung ( 1929 ) III ff.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik