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Vorerhebungen und Voruntersuchung
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
Grundlage das Urteil zu fällen hat. « 1187 Das Vorverfahren sollte dagegen
nur als Vorbereitung dienen. In der Praxis stellte sich das Verhältnis je-
doch umgekehrt dar: Das Vorverfahren erlangte einen Umfang, der mit
den Vorstellungen der Strafprozessordnung keineswegs im Einklang
stand. Vorerhebungen und Voruntersuchung erschöpften sich mitnich-
ten in der Überprüfung, ob überhaupt und gegen wen allenfalls ein Straf-
verfahren einzuleiten sei, sondern nahmen die Ergebnisse der Haupt-
verhandlung vielfach bereits vorweg.1188 Gleichzeitig verlagerte sich die
ursprünglich dem Untersuchungsrichter zugedachte Rolle des » Krimi-
nalkommissars « auf Polizei und Gendarmerie, die sich immer weitrei-
chendere kriminalistische Kenntnisse anzueignen hatten.1189 Es kam zu
einer schrittweisen Verschiebung der Verfahrensmacht von Staatsanwalt
und Untersuchungsrichter hin zu den Sicherheitsbehörden, für deren
Vorgehen im Rahmen der Vorerhebungen es allerdings weitgehend an
rechtlichen Vorschriften fehlte.1190 Die Vorverlagerung von Verfahrens-
schritten bedeutete außerdem nicht nur eine Machtverschiebung, sie
zwang dem Strafverfahren auch permanente Wiederholungen auf: Er-
eignisse, die Personen bereits der Gendarmerie oder Polizei geschildert
1187 Vargha Julius, Strafprozessrecht 2 274 f.
1188 Vgl dazu auch Moos Reinhard in Jung Heike ( hg ), Strafprozeß 52 ff. Zu einem ähn-
lichen Befund im Hinblick auf den reformierten Strafprozess in Deutschland ge-
langt Habermas Rebekka, Diebe 279 Anm 2 mit weiteren Nachweisen. Diese Ent-
wicklung wurde auch in der zeitgenössischen Rechtswissenschaft immer wieder
kritisiert, vgl Hellwig Albert, Zur Psychologie des polizeilichen Verhörs, MSchrKrim
1913, 241; Katz Heinrich, Gedanken über die Reform des Strafprozesses, Allgemeine
Österreichische Gerichts-Zeitung 1911, 123 ( 127 ). Hellsichtig zum Verhältnis zwi-
schen Vorverfahren und Hauptverhandlung bereits Mayer Salomon, Handbuch des
österreichischen Strafproceßrechtes. II. Band: Commentar zu der Oesterreichi-
schen Strafproceß-Ordnung vom 23. Mai 1873 ( 1881 ) 283.
1189 Vgl Moos Reinhard in Jung Heike ( hg ), Strafprozeß 56. Der Umstand, dass die sicher-
heitsbehördliche Ermittlungstätigkeit zunehmend zu anklagereifen Ergebnissen
der Vorerhebungen führte, ließ die Bedeutung der Voruntersuchung schließlich
zurücktreten. In den 1970 er Jahren wurde nur mehr in weniger als der Hälfte der
Fälle ein Antrag auf Einleitung der Voruntersuchung gestellt, 1930 waren dagegen
nur 9 Prozent der Anklagen ohne Voruntersuchung erhoben worden, vgl Driendl Jo-
hannes, Verfahrensökonomie und Strafprozeßreform: ein praktischer Gang durch
das österreichische Strafverfahren ( 1984 ) 12.
1190 Vgl Moos Reinhard in Jung Heike ( hg ), Strafprozeß 56. Die in Art 5 Einführungsge-
setz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen ( EGVG ) angeordnete sinngemäße An-
wendung der Bestimmungen des Verwaltungsstrafgesetzes für Amtshandlungen
von Verwaltungsbehörden im Dienste der Strafjustiz ( BGBl 1925 / 273 ) erwies sich
als wenig praxistauglich, vgl Weiß Wolfgang, Grundzüge der Reform des Vorverfah-
rens in Strafsachen, ÖJZ 1993, 368.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik