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294 VII. Von der Anzeige zur Anklage
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
suchungsrichter gestellten Fragen sollten nur dann in das Protokoll
aufgenommen werden, wenn sie zum Verständnis der Antwort erforder-
lich waren.1271 In den Vernehmungsprotokollen wurden die Aussagen
der Zeuginnen und Zeugen also nicht wortwörtlich niedergeschrieben.
Auch das Frage- und Antwortschema der Voruntersuchung bildeten sie
gemeinhin nicht ab. Nur wenn zu erwarten war, dass ein Protokoll in der
Hauptverhandlung verlesen werden musste oder es fĂĽr die Beurteilung
der Sache wichtig war, waren die AusdrĂĽcke des oder der Vernommenen
wörtlich anzuführen.1272 In allen anderen Fällen sollten die Antworten
der vernommenen Personen » erzählungsweise « aufgenommen und bei
der Darstellung die » historische Ordnung « 1273 eingehalten, die festzu-
stellenden Vorgänge also in chronologischer Reihenfolge angegeben
werden. Allerdings nahm man an, dass die Mehrzahl der zu vernehmen-
den Personen gar nicht in der Lage war, » einen Hergang in klarer Weise
und die Begebenheiten in geordneter Reihenfolge zu erzählen, sondern
sich in verworrener, widerspruchsvoller und unzusammenhängender
Rede ergehen « 1274 würden. Daher empfahlen die Instruktionen über die
Abfassung von Vernehmungsprotokollen, das Protokoll erst dann zu dik-
tieren, wenn der Gegenstand der Vernehmung » durchgesprochen und
möglichst klargestellt ist. « 1275 Um Missverständnisse und Zweideutig-
keiten zu vermeiden, sollten die Aussagen in direkter Rede wiedergege-
ben werden.1276 Die Verwendung der ersten Person Singular erleichterte
freilich nicht nur die Lesbarkeit der Vernehmungsprotokolle: Sie sug-
gerierte auch, dass es sich um eine wörtliche Wiedergabe des Gehörten
1271 Fragen, durch die den Zeugen und Zeuginnen Tatumstände vorgehalten wurden,
die erst durch ihre Antwort festgestellt werden sollten ( Suggestivfragen ), galt es
zu vermeiden. Mussten sie gestellt werden, so waren sie im Protokoll ersichtlich
zu machen, vgl § 167 beziehungsweise § 200 StPO 1873.
1272 Vgl Vargha Julius, Strafprozessrecht 2 282.
1273 Vgl Seefeld Carl, Protokoll 4 17.
1274 Seefeld Carl, Protokoll 4 13.
1275 Seefeld Carl, Protokoll 4 13. Siehe auch Höpler Erwein, Die Protokollierung im Vor-
verfahren, Archiv fĂĽr Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik, Bd 67, 1916, 198
( 207 f ). Habermas weist nach, dass das Wissen um die Konstruiertheit von Verneh-
mungsprotokollen nicht erst Ergebnis der neueren Forschung ist, sondern bereits
den zeitgenössischen Juristen bewusst war, mit welchem Konstruktionsaufwand
Protokolle hergestellt wurden, vgl Habermas Rebekka, Diebe 156 ff.
1276 Vgl Seefeld Carl, Protokoll 4 17. Höpler Erwein, Archiv für Kriminal-Anthropologie und
Kriminalistik, Bd 67, 1916, 213. Siehe auch die Instruktionen bei Lichem Arnold, Aus-
forschungsdienst 8. Es handelte sich allerdings bei den in den Anzeigen der Gendar-
merie aufgenommenen Zeugenaussagen nicht um » Protokolle « im juristischen Sinn.
Diese mussten unterfertigt sein, ihre Aufnahme war der Gendarmerie untersagt.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik