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Das Suchen und Finden von Beweisen
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
bringen ließen, konnten sich die Gutachten dem Beweisthema » Zu-
rechnungsunfähigkeit « annähern. Dieses Spannungsverhältnis prägte
die Erzählsituation: Das in den institutionellen Rahmen der psychiat-
rischen Untersuchung eingebettete Sprechen der Beschuldigten geriet
damit zu einer auf ein bestimmtes Ziel ausgerichteten » erzählenden
Darstellung « ihrer sexuellen Entwicklung.1435
Die psychiatrischen Gutachten selbst umfassten in der Regel an die
zwanzig maschingeschriebene Seiten. Sie zerfielen in den Befund, be-
stehend aus der Vorgeschichte und der psychiatrischen Untersuchung,
und das eigentliche Gutachten über den Geisteszustand zur Zeit der
Tat. Beide Teile waren auch äußerlich voneinander zu trennen.1436 Die
Vorgeschichte gab in gedrängter Form den aus den Akten ersichtlichen
Sachverhalt wieder, ergänzte ihn allenfalls um bereits früher angestellte
psychiatrische Beobachtungen und um die aus den Erzählungen der Be-
schuldigten selbst gewonnene Familien- und Lebensgeschichte. Entspre-
chend dem Rat anerkannter Psychiater und Sexualwissenschafter zeigten
die Sachverständigen großes Interesse an » erblichen « Belastungen.1437 Sie
widmeten sich nicht nur der Kindheit und Jugend der Untersuchten, son-
dern gingen auch auf körperliche und psychische Besonderheiten der
Elterngeneration und weiterer naher Verwandter ein.1438 Der gerichts-
ärztliche Blick war im Erkennen von Krankheiten geschult und suchte
unweigerlich nach Verbindungen zwischen » Degeneration « und » Perver-
sion «. Gleichzeitig sollten autobiographische Schilderungen familiärer
Belastung und erblich bedingte » Nervosität « von persönlicher Schuld
entlasten.1439 Es galt dabei nicht nur, » Perversion « von » Perversität « abzu-
1435 Zum Begriff der » erzählenden Darstellung «, vgl Hoffmann Ludger, Vom Ereignis
zum Fall. Sprachliche Muster zur Darstellung und Überprüfung von Sachverhalten
vor Gericht, in Schönert Jörg ( hg ), Kriminalität 100.
1436 Vgl Lohsing Ernst, Strafprozeßrecht 3 263.
1437 Dazu etwa Krafft-Ebing Richard von, Psychopathia 12 309. Müller führt die Vorliebe
der gerichtsärztlichen Sachverständigen für » Heredität « auf das hohe Maß an
Plausibilität zurück, mit dem sich annehmen ließ, dass ein » angeborener « geis-
tiger Defekt auch zum Tatzeitpunkt bestanden habe, vgl Müller Christian, Verbre-
chensbekämpfung 39.
1438 So wurden etwa auch Krankenakten von Tante und Onkel des Beschuldigten ein-
geholt, vgl OÖLA, BG / LG Linz Sch 324, Vr VI 1530 / 27. Dazu auch Becker Peter, Ver-
derbnis 341.
1439 Vgl Müller Klaus, Herzen 212. Hinsichtlich des familiären Hintergrundes wurde
etwa das hohe Alter der Mutter bei der Geburt und Alkoholismus eines Elternteils
( vgl OÖLA, BG / LG Linz Sch 295, Vr IX 1098 / 22, Psychiatrischer Befund mit Gutach-
ten vom 20. Juli 1922 ) oder geistige Erkrankungen naher Verwandter angegeben
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik