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Urteil
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
kündet.1629 Mit Inkrafttreten des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920 lau-
tete die Urteilsformel nur mehr » Im Namen der Republik « 1630 und ab
1934 schließlich » Im Namen des Bundesstaates Österreich « 1631. Mit die-
ser Wendung sollte der Urteilsverkündung nicht nur eine besonders
feierliche Form verliehen werden,1632 sie brachte gleichfalls die Rück-
führbarkeit der Gerichtsbarkeit auf das Volk zum Ausdruck.1633 Der
Vorsitzende sprach bei der Urteilsverkündung folglich nicht für sich
selbst und auch nicht nur für das Gericht: Die im Ritual der Urteils-
verkündung und dem kollektiven Stehen erzeugte Gemeinsamkeit zwi-
schen den Prozessbeteiligten und der Volksöffentlichkeit diente zum
einen dazu, die Würde des Rechts darzustellen, zum anderen versinn-
bildlichte sie die Rechtsgemeinschaft, der die Anwesenden sämtlich
zugehörten.1634 Vom Gedanken der Demokratisierung der Rechtspflege
waren auch die 1920 eingeführten Schöffengerichte getragen.1635 Durch
die Beiziehung von Schöffen sollte » die Erfahrung des Laien, seine
Empfänglichkeit für den vorgeführten Straffall, seine rein menschli-
che, durch die tägliche berufsmäßige Übung nicht abgestumpfte Auf-
fassung « 1636 Eingang in die Rechtsprechung finden. Ob sich dieses Ziel
tatsächlich durch Senate, die aus zwei Berufsrichtern und zwei Laien-
richtern oder Laienrichterinnen bestanden, erreichen ließ, galt in der
zeitgenössischen Rechtswissenschaft allerdings als umstritten. Vor al-
lem wurde befürchtet, » daß das Laienelement vom Berufsrichtertum an
die Wand gedrückt werden wird « 1637 und Schöffinnen und Schöffen in
ihrer Beurteilung einfach den Berufsrichtern folgen würden.
1629 § 1 Grundgesetz vom 22. November 1918 über die richterliche Gewalt, StGBl 1918 / 38,
sowie Erlaß des Staatsamtes für Justiz vom 27. November 1918 über einige Ände-
rungen in der Geschäftsbehandlung der Gerichte, JABl 1918, 2. Diese Formel er-
setzte die früher übliche Verkündung der Urteile » Im Namen Seiner Majestät des
Kaisers «, zu deren Bedeutung vgl Müller-Graff Peter-Christian, Zur Geschichte der
Formel » Im Namen des Volkes «, ZZP 1975, 442 ( 450 ).
1630 Art 82 Abs 2 B-VG. Siehe auch Seefeld Carl, Protokoll 4 43.
1631 § 4 Bundesverfassungsgesetz vom 19. Juni 1934 betreffend den Übergang zur stän-
dischen Verfassung ( Verfassungsübergangsgesetz 1934 ), BGBl II 1934 / 75.
1632 Vgl Walter Robert, Verfassung und Gerichtsbarkeit ( 1960 ) 172.
1633 Vgl auch Khakzadeh-Leiler Lamiss in Kneihs Benjamin / Lienbacher Georg ( hg ), Rill-
Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht III, 12 Lfg ( 2013 ) Art 82 B-VG Rz 23 ff.
1634 Vgl Wulf Christoph in Schwarte Ludger / Wulf Christoph ( hg ), Körper 39; Legnaro
Aldo / Aengenheister Astrid, Aufführung 18.
1635 Vgl Lohsing Ernst, Strafprozeßrecht 3 47 ff; Gleispach Wenzeslaus, Strafverfahren 2 17;
Scharfmesser Heinrich, JBl 1920, 114.
1636 Scharfmesser Heinrich, JBl 1920, 114.
1637 Lohsing Ernst, Die Strafprozeßnovelle im Jahre 1920, JBl 1920, 177.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik