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370 IX. Rechtsmittel und Gnadengesuche
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
B. Versuche der Umdeutung – Nichtigkeitsbeschwerden
an den Obersten Gerichtshof
Mit dem Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde konnten Angeklagte
neben einem Verstoß gegen Formvorschriften des Verfahrens auch
eine unrichtige Gesetzesanwendung durch das Erstgericht bekämp-
fen. Dazu mussten sie dem höherinstanzlichen Gericht ein alternati-
ves Deutungsangebot der Geschehnisse unterbreiten. Welche anderen
Lesarten dem Gericht mittels Nichtigkeitsbeschwerde vorgelegt werden
konnten, wurde durch das Strafverfahrensrecht genau geregelt. Solange
es sich beim Strafverfahren um einen geheimen, schriftlichen, an ge-
setzlichen Beweisregeln orientierten Prozess gehandelt hatte, konnte
dem höherinstanzlichen Richter mit der Vorlage der Akten der gesamte
Prozessstoff unterbreitet werden. » Für das mündliche, von gesetzlichen
Beweisregeln losgezählte Strafverfahren « stellte die Ausgestaltung der
Rechtsmittel dagegen » die wichtigste, aber auch die schwierigste Auf-
gabe « dar.1695 Ein Irrtum des erstinstanzlichen Gerichts konnte sich auf
Vorschriften des Strafverfahrens oder auf Bestimmungen des Strafge-
setzes beziehen. Es war aber auch möglich, dass die vorgelegten Be-
weise eine andere Interpretation zuließen, als jene, die die erste Ins-
tanz gewählt hatte. Dieser letztgenannte Umstand war jedoch in einem
Strafverfahren nicht zu beheben, das sich den Grundsätzen der Unmit-
telbarkeit und der freien Beweiswürdigung verschrieben hatte: Weder
war es in jedem Fall möglich, dem höherinstanzlichen Gericht die Be-
weismittel im selben Umfang und mit demselben Inhalt vorzulegen wie
der ersten Instanz, noch ließen sich die Aussagen von Zeuginnen und
Zeugen ein zweites Mal wortgleich wiederholen. Eine neuerliche Ent-
scheidung in Fragen der Beweiswürdigung allein auf Grund der Akten
hätte aber den Grundsatz der unmittelbaren Beweisaufnahme durch
eine mittelbare Beweiswürdigung und das Prinzip der freien Beweis-
würdigung durch den Vorrang der höheren Instanz beseitigt. Die Nich-
tigkeitsbeschwerde hatte daher nur Rechtsfragen, nicht aber Tatfragen
zum Inhalt. Lediglich die Subsumtion der Tatsachen unter das Gesetz
konnte durch den Obersten Gerichtshof einer Prüfung unterzogen wer-
den.1696 Ein Tatsachenirrtum der ersten Instanz ließ sich dagegen nur
1695 Glaser Julius, Gesammelte kleinere Schriften über Strafrecht, Civil- und Strafpro-
cess II ( 1868 ) 189.
1696 Vgl Mayer Salomon, Handbuch II 524.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik