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Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Volume LIX
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überlegungen zu michelangelo als Holzbildhauer 55 ders geschätzt, da es sich wegen seiner kleintei- ligen Zellen (Feintextur), seines gleichmäßigen und geradlinigen Faserverlaufs und der daraus resultierenden Eigenschaften besonders für Fein- arbeit eignet: detailrelevante Schnitzerei kann realisiert werden, ohne daß eine Nachbearbei- tung mit Modellier-, beziehungsweise Grundier- masse notwendig wäre. Hingegen fordert Pap- pelholz mit seinen groben Zellstrukturen und der Neigung, während der Bearbeitung zu split- tern, solches ein. Dementsprechend hat Barbara Schleichers Restaurierung gezeigt, daß die Ober- fläche der Skulptur fast überall mit großer Sorg- falt ausgeführt ist und nur eine dünne Schicht von Grundierung aufweist, die allein dem Auf- trag der mit Öl gebundenen Pigmente diente und die darunterliegende Schnitzarbeit sichtbar läßt. Die Grundierung hat keine modellierbare Stärke und wirkt sich somit nicht auf das Volu- men der fertigen Statue aus. Diese Vorgehenswei- se war im Fall der Wahl von Lindenholz für die Anfertigung einer Skulptur überaus verbreitet. Seine vorzüglichen formalen Eigenschaften (ins- besondere seine Feintextur) führten dazu, daß die geschnitzte Oberfläche mit einer verschwin- dend dünnen Grundierschicht (teilweise nur Leim ohne Gips) bedeckt wurde, die lediglich als Vorbereitung der Farbfassung diente. Andere Holzarten, wie eben die Pappel, erfordern häufig, daß Defekte in der Schnitzarbeit durch den Auf- trag einer dicken Schicht modellierbarer Grun- diermasse „korrigiert“ werden. Anläßlich der Restaurierung von 1963 hatte man beim Gekreu- zigten von Santo Spirito mit bloßem Auge Pap- pelholz als Werkstoff bestimmt.16 Diese Angabe – die sich als falsch erwiesen hat – entspricht weder der Feinheit der Oberflächenbearbeitung noch der dünnen Grundierungsschicht, welche die Schnitzerei nicht verdeckt; bei der Verwen- dung von Pappelholz wäre solches in dieser Art und Weise nicht möglich gewesen. Es liegt auf der Hand, daß die hervorragen- den Resultate bei der Anatomie der Christusfigur einerseits der Hand Michelangelos zuzuschreiben sind und anderseits den spezifischen Eigenschaf- ten des Lindenholzes, an erster Stelle seiner Fein- struktur und seiner Weichheit, welche optimale Möglichkeiten der Bearbeitung garantierten. Michelangelos Interesse an der Anatomie des Ge- kreuzigten, so überzeugend Umberto Baldini,17 wurde unter anderem durch die Praxis der Lei- chenöffnung genährt. Ihr konnte Michelangelo im Konvent von Santo Spirito nachgehen, dessen Prior ihm Gastfreundschaft gewährte und der dafür mit dem hölzernen Kruzifix entschädigt wurde. Das Kruzifix aus Santo Spirito darf somit als eines der ersten Zeugnisse jener durch An- schauung erworbenen anatomischen Kenntnisse Michelangelos gelten, dank derer er, laut Vasari, cominciò a dare perfezzione al gran disegno che gli ebbe poi.18 Aus den oben genannten Gründen hat das Lindenholz offenkundig signifikanten Anteil an der darstellerischen Umsetzung dieser Kennt- nisse gehabt. Sicherlich ist es kein Zufall, wenn Vasari Lindenholz als den am besten geeigneten Werkstoff für die Bildhauerei betrachtet, also je- nes Material, aus denen Michelangelo seine bei- den einzigen urkundlich gesicherten Holzskulp- turen fertigte: Il migliore, nientedimanco, tra tutti i legni che si adoperano alla scultura, è il tiglio, per- ché egli ha i pori uguali per ogni lato, ed ubbidisce più agevolmente alla lima ed allo scarpello.19 Va- 16 Vgl. Procacci/Baldini, Il restauro (zit. Anm. 10), S. 30. 17 Vgl. U. Baldini, Il Crocifisso di Santo Spirito di Michelangelo‚ Perfettissimo sopra tutti li altri corpi‘, in: Critica d’arte 10, 2001, S. 28. 18 Giorgio Vasari, La vita di Michelangelo nelle redazioni del 1550 e del 1568, P. Barocchi (Hrsg.), I, Testo, Mailand/ Neapel 1962, S. 13, Zitat, II, Commento, S. 121. „Al Vasari preme determinare l’utilità dell’anatomia ai fini del ‚gran disegno‘ michelangiolesco, entro la prospettiva teorica e storica delle Vite; per la quale l’anatomia è il fondamento della pratica e dello studio del disegno“. 19 Giorgio vasari, Le Vite (zit. Anm. 13), S. 167.
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Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte Volume LIX
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Title
Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
Volume
LIX
Editor
Bundesdenkmalamt Wien
Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien
Publisher
Böhlau Verlag
Location
Wien
Date
2011
Language
German, English
License
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-205-78674-0
Size
19.0 x 26.2 cm
Pages
280
Keywords
research, baroque art, methodology, modern art, medieval art, historiography, Baraock, Methodolgiem, Kunst, Wien
Category
Kunst und Kultur
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