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Kerstin
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atmosphäre auf. Die verstorbene Kaiserin Maria
Theresa hat sich persönlich weniger um ihre Kin-
der gekümmert. Für Ferdinand hatte sie zwar mit
Steffaneo-Carnea einen fähigen Erzieher gefun-
den, aber ihr selbst ist der schwierige und kranke
Sohn fremd geblieben. Umso intensiver war für
Ferdinand die Erfahrung, in Ludovika eine Per-
son zu finden, die sich tatsächlich persönlich für
ihn interessierte. In kürzester Zeit entwickelte er
eine intensive Zuneigung zu seiner Stiefmutter.
Die Gefühle Ferdinands finden einen sehr innigen
Ausdruck in der Motivwahl seiner Geschenke, in-
dem er gestochene Vorlagen durch kleine Inschrif-
ten inhaltlich veränderte und persönlich widmete. Er hat einen Kupferstich nach einem Bild von
Angelika Kauffmann gewählt (Abb. 13).54 Darge-
stellt ist nach Tassos „Gerusaleme liberata“, wie
Erminia den Namen ihres Geliebten Tancreds in
die Baumrinde ritzt. Ferdinand hat die Inschrift in
Der guten Mutt(er) abgeändert und das Bild sehr
sorgfältig und professionell koloriert. Es ist über-
raschend, daß seine ersten selbständigen Versu-
che in der Zeichenkunst ausgerechnet in die Zeit
fallen, als er keinen Erzieher hatte.55 Man könnte
Marie Luise als Initiatorin vermuten, die schon
1805 als erste mit der Technik des Kolorierens be-
gann (Abb. 9). Die beiden Geschwister verstanden
sich sehr gut, waren oft zusammen und unterhiel-
ten in Zeiten der Trennung einen regen Briefkon-
takt. Marie Luise erhielt von Ferdinand zu ihrem
Namenstag sogar schriftliche Glückwünsche und
kündigte ihm in ihrer Antwort am 25. August
1806 eine nicht näher benannte Gegengabe an,
die sie auf einem Markt gekauft hätte. Auch später
sollte sie seine Lieblingsschwester bleiben.56
Das zweite Geschenk zu Ludovikas Namens-
tag 1808 war nicht weniger emotional als das
erste. Es ist wieder ein kolorierter Stich (Abb. 14)
nach einem Gemälde von Angelika Kauffmann,57
in dem die Nymphe der Unsterblichkeit von
Schwänen kleine Plaketten in die Hand gelegt
bekommt, auf denen Namen stehen. Ferdinand
hat diese Namen ersetzt durch Liebe und Dank,
die er Ludovika auf diese Art symbolisch dar-
bringen wollte. Die beiden Bilder sagen viel über
Ferdinand aus. Zum einen über die dankbare Zu-
neigung des Fünfzehnjährigen zu seiner Stiefmut-
ter, von der er sich ernst genommen fühlte. Zum
anderen aber auch über seine penible Korrektheit,
15: Ferdinand, Schmetterlingsfänger, kolorierte Graphik,
undatiert.
54 Thomas Macklin ließ das Bild 1781 von John Keyes Sherwin stechen, allerdings in einem ovalen Rahmen. Die Vor-
lage von Ferdinand ist rechteckig gerahmt. Drucker und Vertreiber lassen sich aufgrund der dicken Übermalung
nicht mehr feststellen. Wahrscheinlich geht der Kupferstich auf eine frühere Variante von Angelika Kauffmanns
„Erminia“ zurück, heute im Schleswig-Holsteinischen Landesmuseum Schloß Gottdorf, vgl. Baumgärtel,
Angelika Kauffmann (zit. Anm. 24), S. 255, Kat. Nr.124 mit Abb.
55 Auch sein erster Versuch von Grundrißzeichnungen datiert im Mai 1808, er zeichnet seine Zimmer mit den einge-
stellten Möbeln.
56 Holler, Ferdinand (zit. Anm. 45), S. 74, 181–182, 193–198.
57 Baumgärtel, Angelika Kauffmann (zit. Anm. 24), S. 255, Kat. Nr. 123 mit Abb.; das Bild wurde auch von Macklin
aus London vertrieben.
Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
Volume LIX
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
- Volume
- LIX
- Editor
- Bundesdenkmalamt Wien
- Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German, English
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78674-0
- Size
- 19.0 x 26.2 cm
- Pages
- 280
- Keywords
- research, baroque art, methodology, modern art, medieval art, historiography, Baraock, Methodolgiem, Kunst, Wien
- Category
- Kunst und Kultur