Page - 16 - in Sportfunktionäre und jüdische Differenz - Zwischen Anerkennung und Antisemitismus – Wien 1918 bis 1938
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16 1 Einleitung: Wien, jüdische Differenz und Sportfunktionäre
bzw.Jüdinnenwaren,alsoeine jüdischeMutterhattenodernicht.DieSachlage
istaberkomplizierter:EinerseitsexistiertennebenderreligiösenDefinitionvon
Judentum auch solche, wie sie etwa vom Zionismus geprägt wurden. Gerade
vieleSportvereineverstandensichnichtals religiös, sondernalsnationaldefi-
niert. InderAuswahlunseresSampleshabenwirdaherauchdieMitgliedschaft
in einem jüdischen Verein, etwa beim SCHakoah,Makkabi, bei Hapoel oder
Hasmonea, als hinreichendesKriteriumerachtet.
Dazu kommen Fremdzuschreibungen: Ein Austritt aus der IKG oder die
Konversion zum Christentum schützten schon vor 1938 nicht unbedingt vor
Antisemitismus. Personen, die sich selbst nicht als Juden und Jüdinnen be-
trachteten, konnten von ihrer Umwelt trotzdem als solche definiert werden.
Vor der Verfolgung durch den Nationalsozialismus schützte das Ablegen der
jüdischenReligionszugehörigkeit ohnehinnicht – odernur sehr begrenzt. Die
Nationalsozialisten schufen mit den Nürnberger Gesetzen 1935 eine zwangs-
weiseFremddefinition,werals Judezugeltenhabe–unddamitderVerfolgung
ausgesetztwar.60Wie alle Studien zum„jüdischenWien“ stehen auchunsere
ÜberlegungenunterderPrämisseeinesBlicks,derdurchdieShoahgeprägt ist
und das Schreiben und Denken zu diesem Thema beeinflusst.61 Es mag aus
der Post-Holocaust-Perspektive problematisch erscheinen,Menschen, die sich
selbernichtals Judenbzw. Jüdinnendefinierten,unterdiesenBegriff zusubsu-
mieren.62 Doch was im Nationalsozialismus mit den schrecklichsten Konse-
quenzenoffenkundigwurde, zeigte sich inWienauch schondavor:Die Frage
derDefinition(en)des Jüdischenwarunmittelbarmit gesellschaftlicher, kultu-
reller undpolitischerMacht verknüpft. Aus diesenGründenhabenwir uns in
diesemProjekt auchmit Personenbeschäftigt, vondenennicht klar ist, ob sie
sich selbst als Judenund Jüdinnenbetrachtet haben– sofern es Belege dafür
gibt, dass sie von anderen als Judenbzw. Jüdinnen gesehenwurden. Aus der
scheinbar einfachenFrage: „Werwar Jude?“, ergeben sich also komplexeFra-
gestellungen, die ein wesentlicher Teil unserer Arbeit waren. Es ging dabei
nichtdarum, jemandenals„Judenzudefinieren“, sondernumdieRekonstruk-
tionenhistorischerDiskurse, ebendieAuseinandersetzungmitderFrage,wel-
che Rolle die Kategorie der jüdischen Differenz, inklusive der dazugehörigen
Fremdzuschreibungen, in konkreten Fällen spielte. Analog der Diskussionen
60 Details zudenNürnbergerGesetzenundanderendiskriminierendenRegulativensieheKa-
pitel 2.
61 MatthiasMarschik, CulturalStudiesundNationalsozialismus.AspekteeinesGeschichtsbil-
des (Wien 2011).
62 AnnaL. Staudacher, Jüdisch-protestantischeKonvertiten inWien 1782–1914 (Frankfurt/M.
et al. 2004) 7.
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Sportfunktionäre und jüdische Differenz
Zwischen Anerkennung und Antisemitismus – Wien 1918 bis 1938
- Title
- Sportfunktionäre und jüdische Differenz
- Subtitle
- Zwischen Anerkennung und Antisemitismus – Wien 1918 bis 1938
- Authors
- Bernhard Hachleitner
- Matthias Marschik
- Georg Spitaler
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-055331-4
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 376
- Categories
- Geschichte Nach 1918