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128 | Theoretische Voraussetzungen
Unsere psychische KapazitÀt ist auf allen sprachlichen Ebenen begrenzt durch das Zeit-
fenster des ArbeitsgedÀchtnisses, was zur Folge hat, dass wir im vollziehenden Akt des
Sprechens und Hören nur auf kurze Strecken vorausplanen können. (Schwitalla 2010: 8)
Um der Prozessierung mĂŒndlicher Kommunikation im zeitlichen Verlauf Rech-
nung zu tragen, hat Peter Auer in diesem Zusammenhang den Begriff der âOn
line-Syntaxâ (Auer 2000) geprĂ€gt, und zwar in Abgrenzung zur âOffline-
Grammatikâ in geschriebenen Texten als âeine vom Realisierungsmodus unab-
hĂ€ngige sprachlich-grammatische Kompetenz der Sprecherâ (Auer 2007: 95).
Neben auf der unterschiedlichen MedialitÀt beruhenden Unterschieden
(z.B. dem Einsatz para- und nonverbaler Mittel, der Möglichkeit von fortlaufen-
der Expansion und Korrektur)178 ist es v.a. die Strategie der Projektion, die in
diesem zeitlich linearen Ablauf die Produktion und Rezeption der ĂuĂerungen
erleichtert: âSprechen und Hörverstehen geschieht auf Zuwachs hin, âinkremen-
tellâ. Deshalb haben wir in der gesprochenen Sprache Projektionstechniken zur
VerfĂŒgung, die beim Hörer Erwartungen aufbauen und Verstehenshilfen gebenâ
(Schwitalla 2010: 10). Sie helfen dem Hörer dabei, mögliche "Redezug-
Abschlusspunkte" (Auer 2005: 3) vorherzusagen, was Zeit fĂŒr andere mentale
und interaktive AktivitÀten, z.B. die Vorbereitung des nÀchsten Turns, schafft
(vgl. Auer 2006: 293). In der theoretischen Auseinandersetzung mit diesen po-
tentiellen Abschlusspunkten einer ĂuĂerung findet sich ein konzeptioneller
Anschluss an den Begriff der GestaltschlieĂung. Dieser basiert auf wahrneh-
mungspsychologischen Ăberlegungen, denen zufolge die Rezeption einzelner
(sprachlicher oder nicht-sprachlicher) Einheiten als Ganzes auf bestimmten
Gestaltgesetzen wie etwa der PrĂ€gnanz, der Ăhnlichkeit oder der guten Fortset-
zung (LinearitÀt) beruht (vgl. die gestaltpsychologischen Grundlagen bei Wert-
heimer 1923/2012). In Bezug auf Redeteile bedeutet dies, âdass bestimmte pro-
jektionsauslösende Strukturteile projektionseinlösende Strukturteile nach sich
ziehen, sodass es zu einer GestaltschlieĂung kommt [âŠ]â (Stein 2003: 428). Die
Rezipient/-innen beurteilen das Gehörte also im Verlauf des GesprÀchs (und
nicht etwa wie bei einem geschriebenen Text im Anschluss an dessen Produkti-
on) implizit nach seiner Abgeschlossenheit, wobei die EinschÀtzung von Mög-
||
178 Stoltenburg (2007: 137) fasst mit Auer (2000) die drei zentralen Merkmale gesprochener
Sprache wie folgt zusammen: 1. FlĂŒchtigkeit, 2. IrreversibilitĂ€t, 3. Synchronisierung. Probleme,
die aus diesen Grundmerk-malen resultieren, werden v.a. durch Projektionen und Retraktionen
kompensiert. WĂ€hrend ĂŒber das Verfahren der Projektion mögliche und unmögliche Fortset-
zungen der Konstruktionen im noch folgenden Verlauf der ĂuĂerung erwartet werden können,
steuert das Verfahren der Retraktion die nachtrÀgliche Bearbeitung, Modifizierung und/oder
Reparatur bereits vollzogener ĂuĂerungen.
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Jugendkommunikation und Dialekt
Syntax gesprochener Sprache bei Jugendlichen in Osttirol
- Title
- Jugendkommunikation und Dialekt
- Subtitle
- Syntax gesprochener Sprache bei Jugendlichen in Osttirol
- Author
- Melanie Lenzhofer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-050330-2
- Size
- 14.8 x 22.0 cm
- Pages
- 502
- Category
- Geographie, Land und Leute