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malen der Bewohner ganzer Landstriche, ja LÀnder, hat in der abendlÀndi-
schen Literatur eine lange Tradition. Schon Herodot von Halikarnassos, der
vielgerĂŒhmte âVater der Geschichtsschreibungâ, ging davon aus, dass alle
Angehörigen eines Volkes etwas gemein hÀtten; in Bezug auf sein Volk, die
Griechen, spricht er von gleichem Blut, gleicher Sprache, gleichen Heilig-
tĂŒmern und Opfern und schlieĂlich von gleichen Sitten (Hdt. VIII 144).223
Danach wÀren gemeinsame Abkunft, Sprache, Religion und Sitten die Krite-
rien, die ein Volk zu einem Volk machten. Dass diese Kriterien nur schein-
bar objektiver Natur und oft in sich widersprĂŒchlich sind, wurde schon im
19. Jahrhundert, von Ernest Renan etwa, erkannt;224 nichtsdestotrotz finden
sich auch heute noch viele solcher kollektiven Zuschreibungen, die zwar
manchmal in der Alltagserfahrung ihre BestÀtigung zu finden scheinen (jeder
kennt laute italienische Touristengruppen), sich bei nÀherem Hinsehen aber
nicht exakt festmachen lassen (sind die Italiener wirklich lauter als andere
Touristen? â die ungemein disziplinierten Japaner mögen bei dieser Frage-
stellung einmal auĂer Betracht bleiben).225 Bisweilen werden solche Zu-
schreibungen heute mit (kollektiven) psychischen Störungen und Traumata
in Verbindung gebracht.226 Im 18. und im 19. Jahrhundert waren solche kol-
lektiven Zuschreibungen ebenso hÀufig wie in anderen Epochen, und man
scheute sich nicht, die angeblichen Charakteristika verschiedener Völker auf
sogenannten âVölkertafelnâ festzuhalten.227 Eine solche Völkertafel, die um
1730 in der Steiermark entstanden ist, zÀhlt die Charaktereigenschaften der
âWĂ€lischenâ, unter welchem Begriff die Romanen generell und im Speziel-
len die Italiener verstanden wurden, auf:
223 Vgl. Herodot, Historien. Griechisch-deutsch. Herausgegeben von Josef Feix, 2 Bde.
(MĂŒnchen, ZĂŒrich 51995), Bd. 2, S. 1161.
224 Vgl. Ernest Renan, Was ist eine Nation? und andere politische Schriften. Mit einem
einleitenden Essay von Walter Euchner und einem Nachwort von Silvio Lanaro (Wien,
Bozen 1995).
225 Wenn auĂereuropĂ€ische Kulturen ins Spiel kommen, werden die kollektiven Zu-
schreibungen oft noch akzentuierter und plakativer, zur gegenseitigen Wahrnehmung
von Afrikanern, Japanern und EuropÀern vgl. Frank Böckelmann, Die Gelben, die
Schwarzen, die WeiĂen (Frankfurt/Main 1998).
226 Vgl. Lloyd de Mause, Das emotionale Leben der Nationen (Klagenfurt 2005).
227 Zu den âVölkertafelnâ vgl. Franz K. Stanzel (Hrsg.), EuropĂ€ischer Völkerspiegel.
Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frĂŒhen 18. Jahrhunderts
(Heidelberg 1999); Franz K. Stanzel, EuropÀer. Ein imagologischer Essay (Heidelberg
ÂČ1998).
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Des Kaisers Leibarzt auf Reisen
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