Page - 173 - in Des Kaisers Leibarzt auf Reisen - Johann Nepomuk Raimanns Reise mit Kaiser Franz I. im Jahre 1832
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deren Bedeutung er zwar nicht leugnete, die fĂŒr ihn aber lediglich die Aus-
gangsbasis, und nicht den Ă€uĂersten Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung
darstellte.
In diesem Zusammenhang soll auch noch kurz Raimanns VerhÀltnis zur
Physiognomik und Phrenologie angesprochen werden. Raimann spricht im-
merhin von bei der mĂ€nnlichen Bevölkerung der istrischen KĂŒstenregionen
anzutreffender âausdrucksvoller u Verstand andeutender Gesichtsbildungâ,
und er stellt fest, dass die istrischen und friulanischen Frauen gleichmĂ€Ăigere
GesichtszĂŒge aufwiesen als die Frauen von Belluno. Hier mag seine grund-
sĂ€tzliche Ăberzeugung zum Ausdruck kommen, dass sich der Geist eines
Menschen in seinem Antlitz widerspiegeln könne. Raimann scheint damit
Ansichten geteilt zu haben, die im 18. und 19. Jahrhundert weit verbreitet
waren. Mit einer charakterologischen Anthropologie, wie sie Johann Caspar
Lavater betrieb,232 oder mit einer Organologie oder Phrenologie, wie sie von
Franz Joseph Gall entwickelt wurde,233 und mit den im Anschluss an diese
Theorien entstandenen Strömungen der Physiognomik, die Paul Collins zu-
sammenfassend und sehr treffend als âsome strange German theories about
how the shape of oneâs head determined behaviorâ bezeichnet,234 haben sol-
che allgemeinen ZusammenhÀnge zwischen Gesichtsausdruck und Charak-
ter, wie Raimann sie formulierte, kaum etwas gemein. Raimann wirkte zwar
in einer Zeit, da Phrenologie und Physiognomik keine geringe AnhÀnger-
schaft zÀhlten, er war aber offensichtlich kein AnhÀnger von Lehren, die
bestimmte Charaktereigenschaften an die Form und GröĂe bestimmter SchĂ€-
delpartien unlöslich gebunden sah. Einem Arzt, der an die âVeredelungâ von
Menschen durch Erziehung und Bildung glaubt, steht es auch nicht gut an,
232 Zu den Theorien Lavaters vgl. Anne-Marie Jaton, Johann Caspar Lavater. Philosoph,
Gottesmann, Schöpfer der Physiognomik. Eine Bildbiographie (ZĂŒrich 1988); Melissa
Percival, Graeme Tytler (Hrsg.), Physiognomy in Profile. Lavaters Impact on European
Culture (Newark 2005). Zur Physiognomik allgemein vgl. Theile, Anthropometrie.
233 Zu Galls SchÀdellehre vgl. Olaf Breidbach, Die Materialisierung des Ichs. Zur Ge-
schichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert (Frankfurt/Main 1997), S. 65-90;
Sigrid Ăhler-Klein, Die SchĂ€dellehre Franz Joseph Galls in Literatur und Kritik des 19.
Jahrhunderts. Zur Rezeptionsgeschichte einer medizinisch-biologisch begrĂŒndeten Theo-
rie der Physiognomik und Psychologie (Stuttgart 1990); Erhard Oeser, Geschichte der
Hirnforschung. Von der Antike bis zur Gegenwart (Darmstadt 2002), S. 110-136. Vor
allem in den USA war die Phrenologie im 19. Jahrhundert sehr beliebt; vgl. dazu Paul
Collins, The Trouble with Tom. The Strange Afterlife and Times of Thomas Paine (Lon-
don 2006), S. 85-108.
234 Collins, The Trouble with Tom., S. 73.
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