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Décultot Museum als sichtbare Geschichte
was etwa dazu führte, dass der Franzose Poussin den Römern zugeschrieben wurde. Auf
dieses eigentümliche, stilbezogene Verständnis des Schulbegriffs ging Mechel in der Ein-
leitung seines Katalogs speziell ein:
„Bey den Schulen-Eintheilungen aber ist man der eingeführten Gewohnheit
gefolget, nach der nicht sowohl der Geburthsort als die Manier und der Styl
einen Meister in eine Schule setzt, sonst würden Rubens und Mengs unter
die Teutschen, und Spranger, der Stifter der Rudolphinischen Schule, unter
die Niederländer gehören.“62
Bahnbrechend in der systematischen Anwendung des Stils als taxonomische Kategorie der
Kunstgeschichte war nun Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums gewesen. Stil
fungierte bei ihm zunächst als Kernbegriff einer historisierenden Auffassung der Kunst. Bei
jeder der in der Geschichte der Kunst untersuchten antiken Zivilisationen wurde die Kunst-
produktion in verschiedene „Zeiten“ eingeteilt, denen jeweils ein eigener Stil anhaftete.
Diese bloß diachronische Bedeutung des Stilbegriffs ließ sich schon an der Bezeichnung
einiger Stil-Phasen ablesen. So zählte für Winckelmann die Geschichte der ägyptischen
Kunst hauptsächlich zwei Stile: den „älteren“, der durch gerade und steife Linien gekenn-
zeichnet sei, und den „folgenden“ oder „späteren“, der dank Entlehnungen aus der
griechischen Kunst seine ursprüngliche Gezwungenheit einigermaßen überwunden habe,
dem griechischen Modell jedoch unterlegen geblieben sei.63 Dieser chronologischen
Bedeutung des Stils als Epochenmerkmal wurde eine räumlich-nationale Dimension hinzu-
gefügt. Jede antike Nation besitze, so die Geschichte der Kunst, ihren eigenen Stil. So
sprach Winckelmann vom „wahren ägyptischen Stil“ eines Zigeunerin-Kopfes oder zählte
die „Eigenschaften“ des etruskischen Stils auf, „die noch itzo in gewisser Maaße [sic]
dieser Nation überhaupt eigen [sind].“64 Jedem Volk sei darüber hinaus nicht nur ein Stil,
sondern auch eine besondere Stilentwicklung eigen, die sie von den anderen Nationen
unterscheide. Während die stilistische Entwicklung der etruskischen Kunst drei Momente
aufweise, welche jeweils einen besonderen Charakter besitzen (Steifheit in der ersten
Periode, größere Biegsamkeit, aber auch Manieriertheit in der zweiten, bloße Nachahmung
in der letzten), lasse sich die griechische Kunst in vier Hauptperioden einteilen, die durch
Gezwungenheit, Größe, Schönheit und Verfall charakterisiert seien.65 In diesen verschie-
denen Bedeutungsformen kommt dem Stil eine entscheidende Funktion zu: Nur an ihm
lassen sich mit Sicherheit sowohl das Alter als auch die nationale Herkunft eines Kunstwer-
kes bestimmen. Stil wird also zum zentralen Kriterium des kunstgeschichtlichen Urteils
und somit auch zum bevorzugten Instrument des echten Kunstkenners.66
Wenn Mechel Winckelmann seinen stilgeschichtlichen Ansatz schuldig ist, so weist sei-
ne Arbeit am Belvedere — und dies sowohl im Katalog als auch in der räumlichen Vertei-
lung der Bilder — eine unterschwellige Spannung zwischen einem historischen und einem
normativen Kunstbegriff auf, die Winckelmanns Werke ebenfalls prägte. Zwar scheint Me-
chels Neuordnung der Belvedere-Galerie sich von vornherein an einem rein historischen
Prinzip zu orientieren:
„Der Zweck alles Bestrebens gieng dahin, dieses schöne durch seine zahlrei-
che Zimmer-Abtheilungen dazu völlig geschaffne Gebäude so zu benutzen,
daß die Einrichtung im Ganzen, so wie in den Theilen lehrreich, und so viel
möglich, sichtbare Geschichte der Kunst werden möchte. Eine solche gros-
se öffentliche, mehr zum Unterricht noch, als nur zum vorübergehenden
Vergnügen, bestimmte Sammlung scheint einer reichen Bibliothek zu glei-
chen, in welche die Wißbegierde froh ist, Werke aller Arten anzutreffen,
Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
Europäische Museumskultur um 1800, Volume 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
- Subtitle
- Europäische Museumskultur um 1800
- Volume
- 2
- Author
- Gudrun Swoboda
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79534-6
- Size
- 24.0 x 28.0 cm
- Pages
- 264
- Category
- Kunst und Kultur