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PETRA ROSTOCK/SABINE BERGHAHN
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kulturell oder sexuell sei. Daher ließ ›Migros‹ verlauten, dass man an Fall-zu-
Fall-Lösungen arbeiten werde. Anders wird die Sache beim Konkurrenten
›Coop‹, der zweitgrößten Handelskette, gehandhabt. Hier erklärte der ›Coop‹-
Mediensprecher, es gebe einheitliche Bekleidungsanforderungen, die keine
Kopfbedeckung vorsähen (ebd.).
Deutschland zählt zwar zu den ›neutralen‹ Staaten, die ansonsten das
Kopftuchtragen weitestgehend zulassen und bislang allenfalls Verbote für die
volle Körperverhüllung und vor allem Gesichtsbedeckung aussprechen. Die
Debatten und insbesondere Regelungen in einigen Bundesländern entsprechen
in der Frage des Kopftuchs der Lehrerin jedoch gerade nicht der toleranten
Regelungstradition der ›neutralen‹ und meist ›kooperativen‹ Regime. In der
Hälfte der deutschen Bundesländer ist ein demonstratives Kopftuchverbot für
Lehrerinnen gesetzlich verankert worden, wobei in fünf dieser acht Bundes-
länder zudem versucht wurde, das Tragen religiös motivierter Kleidungs-
stücke anderer Religionen, konkret des Nonnenhabits und der jüdischen Kip-
pa, dennoch zu erlauben. Die von vornherein beabsichtigte Ungleichbehand-
lung christlich-abendländischer Symbole und Kleidung erinnert geradezu an
ein antiquiertes staatskirchliches Konzept, welches eine hegemoniale Domi-
nanz der Mehrheitsreligion propagiert, andererseits lassen die drei anderen
Bundesländer mit einem Verbot jeglicher religiöser Kundgaben durch Lehr-
kräfte Assoziationen an die französische Laizität aufkommen. Daher ist fest-
zuhalten, dass Deutschland als Land mit einer Tradition der ›offenen‹ staatli-
chen Neutralität und mit ›kooperativem‹ Selbstverständnis der meisten poli-
tischen Amtsträger – jedenfalls gegenüber den christlichen Kirchen – eine der
eigenen nationalen Tradition widersprechende Entwicklung genommen hat,
die nicht dem Standard in Europa entspricht (siehe auch Berghahn in diesem
Band).
Während das Kopftuch in den meisten europäischen Ländern nicht ge-
setzlich reguliert ist, erweist sich die muslimische Kopfbedeckung häufig als
Projektionsfläche für Kontroversen sowohl über die Bedingungen des Zusam-
menlebens in europäischen Einwanderungsgesellschaften, als auch über die
religiöse Verfasstheit ebendieser Staaten und die ›zulässige‹ Interpretation
von Geschlechtergleichheit. Die Versuche rechtsgerichteter Parteien, tolerante
Regelungen auszuhebeln und die symbolischen Kopftuchverbote, die selbst
Regierungsparteien in Dänemark und Holland zu installieren versuchen, spre-
chen für einen ubiquitären Unwillen, Muslime und Musliminnen als Bürger/
innen ›auf gleicher Augenhöhe‹ anzuerkennen. Dabei dient die Proklamation
von strikter Säkularität, von staatlicher Neutralität – notfalls unter Verwand-
lung christlicher und jüdischer Kleidungsstücke in Symbole für abendländi-
sche oder sogar universelle Werte – als Alibi für die fehlende Anerkennung
der multiethnischen, multikulturellen und multireligiösen Realitäten in Euro-
pa.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik