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SABINE BERGHAHN
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wenn fortan ein Bundesgrundrecht – noch dazu ohne Gesetzesvorbehalt –
durch Landesgesetze ohne größeren Aufwand erheblich eingeschränkt werden
darf. Steht dem nicht eigentlich der Art. 31 GG entgegen?11
Das Karlsruher Urteil als Kompromiss
und Vermeidung eines Stimmenpatts
Die Widersprüchlichkeit des Urteils der Senatsmehrheit erklärt sich daraus,
dass hier offenbar zwei richterliche Lager vorhanden waren und die liberale
Seite ein Stimmenpatt von 4:4 verhindern wollte, weil dies die Abweisung
von Fereshta Ludins Verfassungsbeschwerde bedeutet hätte. Integrationspoli-
tisch wäre dieses Signal vermutlich desaströs gewesen; ohne triftige Begrün-
dung im Einzelfall hätte jede Lehrerin oder Bewerberin mit Kopftuch um-
standslos sanktioniert bzw. abgelehnt werden können, ohne dass mindeste
Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechtsbindung von den
Schulbehörden hätten beachtet werden müssen. Es ist nachvollziehbar, dass
ein solcher Ausgang der Verfassungsbeschwerde unter liberal-rechtstaatlichen
Gesichtspunkten unbedingt zu vermeiden war. Das liberale Lager konnte
aber, so darf man vermuten, eine Person aus der anderen richterlichen Gruppe
davon überzeugen, zu einer Mehrheitsbildung beizutragen, wenn die Letztent-
scheidung über die Richtung der Regelung den Bundesländern überantwortet
würde. Es handelte sich also um einen Kompromiss, der in sich inkonsistent
ist (siehe auch Mahrenholz und Sacksofsky in diesem Band), aber politisch
und strategisch die Pattsituation zu überwinden half (ausführlicher Berghahn
2004: 51 ff und 2009). Dadurch wurde die Frage der politischen Richtungs-
entscheidung – Kopftuchverbot für Lehrerinnen: ja oder nein? – erst einmal
aufgeschoben und dem föderalistischen Prinzip und Prozess überantwortet.
Vermutlich lautete das Kalkül der ›liberalen Fraktion‹ im Zweiten Senat: Die
Gesetzgebungen der Bundesländer werden gerade in den Regionen Deutsch-
lands, in denen christliche, insbesondere katholische Traditionen und Sym-
bole im öffentlichen Leben und in der Schule besonders geschätzt werden, aus
politischer Klugheit darauf verzichten, religiöse Zeichen und Kleidungsstücke
für Lehrkräfte zu verbieten, weil sie dann – wegen der Gleichbehandlung aller
Religionen – auch den Nonnenhabit und Schmuckkreuze untersagen müssten.
Hier haben die liberal eingestellten Richter und Richterinnen allerdings nicht
mit dem föderalistischen Eigensinn mancher Landesregierungen und Parla-
mente gerechnet!
11 Art. 31 GG lautet: »Bundesrecht bricht Landesrecht«.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik