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SABINE BERGHAHN
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tierte die Referenzklauseln dahingehend, dass damit nur vom Glauben ab-
gelöste Werte gemeint seien. Dies bedeute, dass christliche oder jüdische Zei-
chen oder Kleidungsstücke für Lehrkräfte ebenfalls untersagt seien. Die be-
troffene Lehrerin kündigte an, Verfassungsbeschwerde zum BVerfG zu er-
heben.21
In Nordrhein-Westfalen entschieden die Gerichte ebenfalls entlang der
Argumentationslinie des VGH Mannheim und des BVerwG. Anders als das
VG Stuttgart urteilte als erstes Gericht dieses Bundeslandes das VG Düs-
seldorf am 05.06.2007 von vornherein entschieden im Sinne eines strikten
Kopftuchverbots.22 Auch hier räumte das Gericht ein, dass die Legislative des
Bundeslandes Nordrhein-Westfalen mit der Verankerung der Klausel zu Gun-
sten christlich-abendländischer Werte und Traditionen zwar entsprechende
Kleidungsstücke und Symbole privilegieren wollte. Dies beurteilte das Ge-
richt als verfassungsrechtlich nicht zulässig. Daher könne und müsse man den
Gesetzeswortlaut anders, d.h. verfassungskonform, interpretieren. Wie zuvor
das VG Stuttgart hielt das VG Düsseldorf eine Ungleichbehandlung der Reli-
gionen für unzulässig und legte die ›Ausnahmeklausel‹ im Endeffekt so aus,
wie es das BVerwG 2004 vorgezeichnet hatte.23 Demnach müssten auch der
Nonnenhabit und die jüdische Kippa als Verstoß gegen das Neutralitätsgebot
angesehen werden. Weitere Arbeits- und Verwaltungsgerichte in Nordrhein-
Westfalen entschieden genauso.24
Den Gerichten fiel die ›gesetzesbegradigende‹, vermeintlich verfassungs-
konforme Interpretation angesichts der Schwammigkeit der Formulierungen
in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen offenbar nicht schwer. Sie
sahen auch keine kompetenzrechtlichen Probleme aufgeworfen. Gerichte dür-
fen gemäß Art. 100 Abs. 1 GG relevante Gesetzesbestimmungen nicht einfach
für verfassungswidrig erklären, sondern müssen in solchen Fällen eine Vorla-
ge zum BVerfG formulieren. Allerdings bietet die Figur der ›verfassungskon-
formen Auslegung‹ den Gerichten einen erheblichen Handlungsspielraum, da
sie auf diese Art und Weise nicht die Verfassungswidrigkeit einer Gesetzes-
21 Siehe »Kopftuch-Streit. Lehrerin legt Beschwerde gegen Urteil ein«. Stuttgarter
Nachrichten v. 04.02.2009, abrufbar: http://www.stuttgarter-nachrichten.de/stn/
page/1938534_0_2147_kopftuch-streit-lehrerin-legt-beschwerde-gegen-urteil-
ein.html, 19.02.2009.
22 VG Düsseldorf v. 05.06.2007, Az. 2 K 6225/06, abrufbar: http://www.justiz.
nrw.de/RB/nrwe2/index.php, 18.05.2008.
23 BVerwG v. 24.06.2004, BVerwGE 121, 140.
24 ArbG Herne v. 07.03.2007, Az. 4 Ca 3415/06; VG Düsseldorf v. 05.06.2007,
Az. 2 K 6225/06; ArbG Düsseldorf v. 29.06.2007, Az. 12 Ca 175/07; VG Düs-
seldorf v. 14.08.2007, Az. 2 K 1752/07; VG Aachen v. 09.11.2007, Az. 1 K
1466/07; LAG Düsseldorf v. 10.04.2008, Betriebsberater (BB) 2008, 889; LAG
Hamm v. 16.10.2008, Az. 11 Sa 280/08 und 11 Sa 572/08; VG Köln v. 22.10.
2008, Az. 3 K 2630/07.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik