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DEUTSCHLANDS KONFRONTATIVER UMGANG MIT DEM KOPFTUCH DER LEHRERIN
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Prohibitive Gleichbehandlung oder
ungleich behandelnde Pseudo-Neutralität –
Freiheit und Pluralität bleiben auf der Strecke
Im Prinzip müssen alle europäischen Staaten wegen der Bindung an Men-
schenrechtspakte und -Konventionen religiösen Pluralismus zulassen und das
individuelle Grundrecht der Glaubens- und Religionsausübungsfreiheit ge-
währleisten (Loenen 2006). Dieses individuelle Grundrecht kommt auf diese
Weise auch Angehörigen von religiösen Minderheiten zugute. Die laizitären
Staaten wie Frankreich und die Türkei unterbinden dagegen die Ausübung der
Religionsfreiheit in der öffentlichen Sphäre unter Berufung auf die unter-
stellte befriedende und erhoffte partizipatorische Wirkung von Republikanis-
mus und Laizität. Mithilfe dieser Prinzipien sollen alle Religionen gleicher-
maßen aus der öffentlichen Sphäre verbannt werden. Hier macht sich der
Republikanismus als ideologische Grundlage, besonders für die Schule, be-
merkbar: Partikularitäten und rückwärtsgewandte Traditionalismen sollen un-
terbunden werden, Bürger und Bürgerinnen hingegen frei und gleich sein,
wobei dies in der Schule als Loslösung aus der Partikularität der familiären
Einflüsse eingeübt werden soll. Daher schränken laizitäre Staaten religiösen
und weltanschaulichen Pluralismus ein, machen aber dadurch die öffentliche
Ausübung dieser Freiheiten individuell weit gehend unmöglich. In ›neutralen‹
Staaten tut sich der Staat dagegen leichter, normativ konsistent zu agieren,
denn hier gibt es kaum freiheitseinschränkende Verbote und bei Konflikten
wird im Einzelfall abgewogen. Neutralität bedeutet hier nur, dass Organe des
Staates und Amtsträger sich jeder Identifikation des Staates mit und jeder
Bevorzugung einer bestimmten Religion/Konfession zu enthalten haben; die
Kundgabe der eigenen religiösen Bindung ist Staatsdiener/inne/n jedoch ge-
mäß der ›offenen‹ Neutralität nicht untersagt. Und selbst in Ländern mit
Staatskirche darf es – um der Menschen- und Bürgerrechte willen – nicht zur
Vereitelung individueller und kollektiver Freiheiten des Glaubens und der Re-
ligionsausübung minoritärer Gemeinschaften kommen (am Beispiel Norwe-
gens Skjeie 2007: 130). Für Deutschland stellt sich umso mehr die Frage, wa-
rum der Pfad der insofern komfortablen ›offenen‹ Neutralität verlassen wurde,
um – zumindest partiell – der menschenrechtlich prekären und konfliktrei-
cheren laizitären Tradition zu folgen, die im Verdacht steht, die individuelle
Religionsfreiheit in unzulässiger Weise zu missachten.
Dagegen musste politisch Verantwortlichen in den fünf deutschen Bun-
desländern mit ›christlich-abendländischem Verbotsmodell‹ von Anfang an
klar sein, dass ein Messen mit zweierlei Maß – Verbot des Kopftuchs, aber
Gestattung des Nonnen-Habits – sich legislativ und judikativ nicht würde le-
gitimieren lassen, da Gerichte die Ungleichbehandlung rügen würden. Wenn
den Politiker/inne/n die Pflege der christlichen Werte und Traditionen – ganz
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik