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DEUTSCHLANDS KONFRONTATIVER UMGANG MIT DEM KOPFTUCH DER LEHRERIN
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frieden durch die einzelne Person bezogen sein kann. Die christlich-abend-
ländische Ausnahmeklausel des § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NRW erachten
Walter und Ungern-Sternberg als verfassungswidrig im Hinblick auf das GG
und lehnen die vom BVerwG und von Verwaltungs- und Arbeitsgerichten
vorgenommene verfassungskonforme Auslegung ab (ebd.: 495), weil sie vom
Anwendungskontext der Regelung des § 57 SchulG und von der darin von
vornherein enthaltenen intentionalen Ungleichbehandlung der Religionen ab-
sieht.
Auch wenn zahlreiche juristische Expert/inn/en der dargelegten Kritik an
der Rechtsprechung der deutschen Gerichte beipflichten, ist es natürlich nur
eine Rechtsmeinung, der gegenteilige gegenüber stehen. So wird es sich in
Zukunft vermutlich anhand weiterer Verfassungsbeschwerden und möglicher-
weise einer Vorlage eines deutschen Gerichts beim EuGH zeigen, inwieweit
die gemachten Erfahrungen mit den landesrechtlichen Verbotsgesetzen zu
einer Wende in der normativen Beurteilung des Kopftuchkonflikts führen und
ob dies dann Einfluss auf die Gesetzeslage nehmen wird. Da sich der Zweite
Senat des BVerfG schon 2003 nicht konsistent auf eine liberal-pluralistische
Einzelfallprüfung in Bezug auf konkrete Gefahren einigen konnte, dürfte bei
einer erneuten Verfassungsbeschwerde nicht unbedingt ein anderes Ergebnis
zu erwarten sein, allerdings wäre dann schon die Nicht-Annahme zur Ent-
scheidung durch eine Dreier-Kammer des Zweiten Senats zu erwarten. Auch
der EuGH würde es nicht leicht haben, eine konsequent individualrechtliche
Abwägung im Einzelfall als generelle Konfliktlösungsstrategie vorzugeben,
weil seine Entscheidung grundsätzlich alle Mitgliedstaaten bindet. Das von
Walter und Ungern-Sternberg aufgezeigte ›Hintertürchen‹ für Frankreich
(s.o.) erscheint nur auf den ersten Blick überzeugend, auf den zweiten wirft es
viele Zweifel auf. Auch die mögliche Divergenz zwischen dem EuGH und
dem EGMR gehört nicht gerade zu den erwünschten Effekten der institu-
tionellen Koexistenz dieser Gerichtshöfe. Die ›Kopftuchfrage‹ bleibt also
spannend!
Literatur
Altinordu, Ates (2004): The Meaning(s) of the Headscarf: the German Kop-
ftuchstreit. Abrufbar: http://www.research.yale.edu/ccs/workshop/altinor-
du_headscarf.pdf, 28.02.07.
Amir-Moazami, Schirin (2007): Politisierte Religion. Der Kopftuchstreit in
Deutschland und Frankreich, Bielefeld: transcript.
Berghahn, Sabine (2000): Die Lehrerin mit dem Kopftuch. Oder: Wieviel
weibliche Devianz vertragen Schülerinnen, Schulbürokratie und die
deutsche Öffentlichkeit? In: Elfi Bettinger/Angelika Ebrecht (Hg.): Trans-
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik