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SELIGE MUSLIMINNEN ODER MARGINALISIERTE MIGRANTINNEN?
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Ermöglichen ›tolerante‹ Kopftuchregime
Partizipation von Frauen?
Das österreichische Beispiel macht deutlich, dass die Anerkennung des Islams
und die damit einhergehenden Rechte auf der einen Seite zentral für die
Erklärung der ›toleranten‹ Kopftuchpolitik wie auch der relativ konfliktfreien
Anerkennung der diesbezüglichen Forderungen von Musliminnen und Mus-
limen sind. Unsere Analyse zeigt jedoch auch, dass dieser kooperative Um-
gang mit Anerkennungsforderungen nicht unmittelbar dazu führt, dass Mus-
liminnen auch in anderen Bereichen die Möglichkeit zur Partizipation haben.
Trotz kollektiver Anerkennung ihrer Religionsgemeinschaft und des Kopf-
tuchs als eines ihrer Symbole, verfügen Musliminnen nicht über eine ent-
sprechende ökonomisch-soziale Verhandlungsmacht, um angemessen für
ihre eigenen Teilhabechancen einzutreten. Wenngleich für die Erklärung der
›toleranten‹ Kopftuchregulierung die Kirche-Staat-Beziehung von entschei-
dender Relevanz ist, sind auch die anderen Faktoren wie das Antidiskri-
minierungsregime, das ›Citizenship Regime‹ und sozioökonomische Fak-
toren von Bedeutung, um die relativ geringen Teilhabemöglichkeiten an der
österreichischen Gesellschaft zu erklären. Erst im Zusammenspiel der ver-
schiedenen Faktoren lässt sich die österreichische Situation umfassend
verstehen. So wird deutlich, dass die kontinuierliche Betonung des vorbildli-
chen Umgangs mit Musliminnen und Muslimen die bestehenden Probleme
und Ungleichbehandlungen unthematisiert lässt, womit gleichzeitig die Chan-
ce auf öffentliche Aushandlungen von gleichberechtigter Teilhabe sinkt.
Wir möchten an dieser Stelle einen erweiterten und präziseren Analyse-
rahmen für zukünftige Untersuchungen des Kopftuchregimes vorschlagen:
das ›Kopftuchdispositiv‹, in Anlehnung an die Foucault-Interpretation von An-
drea Bührmann und Werner Schneider (2008). Im Vergleich zu der alleinigen
Analyse von Diskursen fokussiert eine ›Dispositivanalyse‹ auf die Beziehungen
und Interdependenzen zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praxen. Mit
diesem Analyseparadigma werden zum einen die Effekte von Alltagswissen und
Alltagspraxen der Akteurinnen und Akteure miteinbezogen. Zum anderen kön-
nen damit aber auch die Effekte dieses Zusammenspiels in Relation zu den be-
stehenden Machtformationen und Herrschaftsstrukturen betrachtet werden
(Bührmann/Schneider 2008: 127). Mit diesem Ansatz wird es somit möglich, die
Verknüpfungen von medialen oder Expertendiskursen mit der nicht-diskursiven
Praxis des Kopftuchtragens sowie den darin eingewobenen Subjektpositionie-
rungen16 und Subjektivierungsweisen17 zu erfassen. Eine ›Dispositivanalyse‹ be-
16 Eine im medialen Diskurs häufig zu findende Subjektpositionierung ist die der
passiven, nicht emanzipierten muslimischen Frau.
17 Eine in den ›Kopftuchdebatten‹ virulente Subjektivierungsweise ist zum Bei-
spiel die Kritik von Kopftuch tragenden Frauen, dass das Kopftuch eine Wider-
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik