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DAS KOPFTUCH IN DER SCHWEIZ
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religiöse Überzeugung der Menschen zu achten, zu schützen und – unter
bestimmten Voraussetzungen – gewisse Leistungen zur Verwirklichung die-
ses Anspruchs zu erbringen.
Das BG verlangt für eine Berufung auf die Glaubens- und Gewissensfrei-
heit, dass mit dem Anliegen eine umfassende Vorstellung des Menschen vom
Göttlichen bzw. Transzendenten zum Ausdruck kommt.3 Die Glaubens- und
Gewissensfreiheit lässt sich demnach nicht allein auf die Befolgung impe-
rativer Glaubenssätze reduzieren, sondern – so das BG – ihr Schutz erstreckt
sich auch auf
»Überzeugungen, die für eine konkrete Lebenssituation eine religiös motivierte
Verhaltensweise zwar nicht zwingend fordern, die in Frage stehende Reaktion aber für
das angemessene Mittel halten, um die Lebenslage nach der Glaubenshaltung zu
bewältigen. Andernfalls könnte sich die Religionsfreiheit nicht voll entfalten« (BGE
119 Ia 178, 183).
Kulturell-religiöse Argumente in einem Rechtsstreit sind daher individuell
definiert.4 Die Glaubens- und Gewissensfreiheit der BV schützt folglich nicht
den Islam als Religionsform mit festgelegten Glaubens- und Kultuselementen,
sondern Glaubensinhalte, die von den Gläubigen selbst gewählt und dem
Islam zugeschrieben werden. Es stellt sich also nicht die Frage, ob der Koran
das Tragen des Kopftuchs überhaupt verlangt, sondern ob Frauen und
Mädchen, die aus ihrer Sicht eine solche religiöse Pflicht bejahen, aus
öffentlichen Interessen an der Pflichterfüllung gehindert werden dürfen (Kälin
2000: 25). Das Tragen des Kopftuchs, ob zu Hause oder im öffentlichen
Raum, fällt als Ausdruck der religiösen Überzeugung in den Schutzbereich
der Glaubens- und Gewissensfreiheit.
Die Garantie gewährt jeder Person das Recht zu verlangen, dass der Staat
nicht auf ungerechtfertigte Weise das Praktizieren der religiösen Überzeugung
beschränkt und die notwendigen Schutzhandlungen erbringt.5 Einschränkun-
gen der Religionsfreiheit müssen sich auf eine hinreichende gesetzliche
Grundlage stützen, öffentlichen Interessen dienen und verhältnismäßig, d.h.
zur Erreichung des verfolgten öffentlichen Interesses geeignet, erforderlich
3 Bundesgerichtsentscheid (BGE) v. 18.06.1993, BGE 119 Ia 178, 183; ähnlich
BGE v. 12.11.1997, BGE 123 I 296, E. 2a.
4 BG v. 27.02.2008, Az. 1D_11/2007 und 1D_12/2007, 5.2. bzw. Erw. 3.2; siehe
auch Karlen 1988: 200; Wyss 1994: 391. Das BG folgt diesem Grundsatz aller-
dings nicht immer konsequent, so im BGE v. 12.11.1997, BGE 123 I 296, E. 2.a
oder BGE v. 27.05.1993, BGE 119 IV 260.
5 BGE v. 14.02.1992, BGE 118 Ia 46, E. 3b.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik