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KIRSTEN WIESE
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BVerfG beachten. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist Art. 3 Abs. 2 und
Satz 1 GG darauf gerichtet, tatsächliche Gleichstellung zwischen Männern
und Frauen zu erreichen.26 Art. 3 Abs. 2 GG verbiete dem Staat, tradierte Rol-
lenzuweisungen, die zu einer höheren Belastung oder sonstigen Nachteilen für
Frauen führen, zu verfestigen.27 Frauen müssten z.B. die gleichen Erwerbs-
chancen haben wie Männer. Durch Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG sei der Staat ge-
halten, diese Gleichberechtigung auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit
umzusetzen. Der Staat müsse darauf hinarbeiten, überkommene Rollenvertei-
lungen zu überwinden.28
In der rechtswissenschaftlichen Literatur haben sich dagegen Ende der
1980er- und in den 1990er-Jahren Ansätze zur Interpretation von Art. 3 Abs.
2 und 3 GG entwickelt, denen eine stärker gruppenbezogene Perspektive
eigen ist. Ziel dieser Ansätze ist es, der gesellschaftlichen Dominanz von
Männern durch ein substanzielles Benachteiligungsverbot zu begegnen und so
reale Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern herzustellen (Wrase
2006: 83 f). So versteht Ute Sacksofsky Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG als Domi-
nierungsverbot (Sacksofsky 2002: Art. 3 Abs. 2 und 3 Satz 1 Rn. 332 ff).
Einer Gruppe, die in einem Gemeinwesen die wirtschaftliche und politische
Macht hat, sei es verboten, unterprivilegierte Gruppen zu benachteiligen,
sprich: zu dominieren. Auf den Schutz des Dominierungsverbots aus Art. 3
Abs. 2 Satz 1 GG sollen sich derzeit nur Frauen als Angehörige der benach-
teiligten Gruppe berufen können. Dem Staat sei es untersagt, sowohl (1)
Frauen auf die traditionelle Rolle festzulegen oder diese zu perpetuieren als
auch (2) an die Wahrnehmung der traditionellen Rollen ungerechtfertigte
Nachteile zu knüpfen (Sacksofsky 1996: 352). Vera Slupik liest Art. 3 Abs. 2
Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 GG als Gebot, einen ›potentiellen Rollentausch‹
anzubieten (Slupik 1988: 85 ff). ›Potentieller Rollentausch‹ bedeute, für das
diskriminierte Geschlecht, also die Frauen, Voraussetzungen zu schaffen, um
die tatsächlichen Vorteile des bevorzugten Geschlechts, also des männlichen,
in Anspruch nehmen zu können. Nur so könne das Ziel des Paritäts-
grundsatzes – die Herstellung eines Gleichgewichts im gesellschaftlichen
Kräfteverhältnis zwischen den Geschlechtern – erreicht werden. Da die exis-
tierenden Geschlechterrollen nicht äquivalent seien, müsse der Staat Voraus-
setzungen für ihre Austauschbarkeit schaffen. Noch weiter als Sacksofsky und
Slupik gehend fordert Baer die Aufgabe des Rollenbegriffs (Baer 1995:
222 ff). Die Rolle ›Frau‹ sei in einer geschlechtshierarchischen Gesellschaft
zwingend mit Benachteiligung verbunden. Der Abschied von Rollenzwang
und rollenbezogenem Nachteil habe den Abschied von der Rolle selbst zur
26 Siehe auch BVerfG v. 28.01.1992, BVerfGE 85, 191, 207.
27 Siehe BVerfGE 85, 191, 207; zuletzt BVerfG v. 25.10.2005, BVerfGE 114, 357.
28 Siehe auch BVerfG v. 24.01.1995, BVerfGE 92, 91, 109; BVerfG v.
18.11.2003, NJW 2004, 146, 149.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik