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KOPFTUCHTRAGEN IM WIDERSPRUCH ZUM ERZIEHUNGSZIEL ›GLEICHBERECHTIGUNG‹?
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Folge. Nur durch die Aufgabe des Rollenmodells könne der an Geschlecht
anknüpfenden Diskriminierung begegnet werden. Dagegen arbeite das
BVerfG mit einem männlichen Maßstab und schließe Menschen aus, die nicht
ohne Weiteres in die dichotomisch fixierte Struktur ›Mann-Frau‹ einzuordnen
seien. Ebenso kritisiert Baer auch Sacksofskys Interpretation des Art. 3
Abs. 2 GG als Dominierungsverbot – auch dieses konzentriere sich auf
Rollenzuweisungen. Schließlich lehnt sie Slupiks Verständnis von Art. 3 Abs.
2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 GG als Gebot des Rollentauschs ab, weil sich
Geschlechtsrollen nicht von ›Geschlecht‹ trennen ließen. ›Nicht sexuell
diskriminiert zu werden‹, könne z.B. nicht gewählt werden.
Die Aufgabe des Rollenbegriffs ist aber – so die These dieses Beitrags –
für die Vermittlung von Gleichberechtigung in der Schule zu weit gehend.
Dies gilt auch, da das Erziehungsziel ›Geschlechtergleichberechtigung‹ als
Schranke der Religionsfreiheit der Lehrerin einschränkend auszulegen ist. Die
Schule muss, um Voraussetzungen für faktische Gleichstellung zu schaffen,
versuchen, die Schüler und Schülerinnen so zu erziehen, dass sie sich nicht
dem jeweils anderen Geschlecht unterordnen, sondern gleichberechtigt ihre
Rechte wahrnehmen. Da Frauen gegenwärtig das benachteiligte Geschlecht
sind (Sacksofsky 1996: 401), muss der Staat vor allem Anstrengungen un-
ternehmen, um die Nachteile von Mädchen in der Schule zu erkennen und zu
beheben (Berghahn 2000: 217). Um die Mädchen und Jungen so zu erziehen,
dass sie die Chancen der faktischen Gleichstellung wahrnehmen können, darf
die Schule ihnen keine Festlegung auf bestimmte gesellschaftliche Rollen
(Frau = Hausfrau und Mutter, Mann = Ernährer) nahelegen. Die Schule darf
bei der Vermittlung der Gleichberechtigung aber an dem Begriff der ›Ge-
schlechterrollen‹ festhalten. Denn es ist anzunehmen, dass für viele Schüler
und Schülerinnen die gesellschaftliche Aufteilung in die sozialen Kategorien
›Mann‹ und ›Frau‹ selbstverständlich ist. Ein Konzept der Gleichberechti-
gung, welches das Aufgeben der Geschlechterrollen intendiert, ist für viele
Schulkinder demgegenüber vermutlich avantgardistisch. Die Schule wird
Gleichberechtigung umso besser lehren können, je mehr sie an die Lebens-
wirklichkeit von Schülern und Schülerinnen und deren Wissenshorizont an-
knüpft. Allerdings legen die Untersuchungen und Thesen von Wissenschaft-
lerinnen wie Baer oder Lorber nahe, dass die Einteilung in Geschlechterrollen
immer die Gefahr birgt, dass ein (soziales) Geschlecht dem anderen unterge-
ordnet wird. Die Schule sollte deshalb zumindest thematisieren, dass eine Ge-
sellschaft ohne die Kategorie ›Geschlecht‹ denkbar ist und möglicherweise
nur in einer solchen Gesellschaft Gleichberechtigung von Menschen herge-
stellt werden kann. Zumindest die weiterführende Schule sollte aufzeigen,
dass nicht alle Menschen biologisch oder sozial klar in die Kategorien ›Mann‹
und ›Frau‹ eingeteilt werden können, dass es vielmehr sowohl unterschied-
liche ›Weiblichkeiten‹ und ›Männlichkeiten‹ als auch Transsexuelle und
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik