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Confefsionen, wenn sie gemischt wohnen, halten eine der andern Andacht mit allen
Utensilien, Ceremonien und Festen in Ehren, nehmen an ihren Wallfahrten theil, besuchen
ihre Gottesdienste nnd der gutherzige Greis gedenkt in seinem Testamente der „heiligen
Kirche" und der „Ecelesie", iudem er uuter jener die römisch katholische, unter dieser die
protestantische Confession versteht; auch ueuuen sie sich nicht anders, weder in amtlicher,
noch in gewöhnlicher Rede, als mit dem zarten Worte: „die Verwandten" (at^atiak). So ist
denn das ungarische Alsöld niemals der Schauplatz religiöser Zwistigkeiteu gewesen und mit
wie vieler Weisheit da die interkonfessionellen Angelegenheiten geschlichtet wurden, zeigt
das Beispiel Kecskemets, das in diesem Aufsatz als Typus aufgestellt ist, wo nicht nur
bei der Besetzung der sämmtlichen Civilämter traditionelle Rücksicht gegen einander geübt
wurde, sondern sogar bei den Abgeordnetenwahlen ein- für allemal der Grundsatz beobachtet
wird, daß der Deputirte des eine» Bezirkes Katholik, der des anderen Bezirkes jedoch
Protestant sein soll.
In den Kirchen herrscht überall musterhafte Ruhe und Ordnung, welche letztere sich
besonders beim Verlassen der Kirche deutlich kuudgibt. Zuerst gehen die Mädchen, dem
Alter nach, dann kommen die jungen Frauen, endlich die älteren. Hierauf folgt das
männliche Geschlecht, erst die Bursche, dann die Männer, zuletzt die Obrigkeit. Alle
einzeln, mit leisen Tritten; niemals will Jemand dem Vordermann zuvorkommen. Das
wäre auch nicht rathsam, denn er hätte es dann nicht mit dem Hochwürdigen, sondern mit
dem Richter zu thun.
Ferner aber verwandelt sich der (häufig eingefriedete) Raum vor der Kirche in den
richtigen Mittelpunkt des socialen und Gemeiudelebeus. Hier verkündet der Richter die
höheren Verordnungen, die Beschlüsse des Gemeinderathes; hier werden die Fragen, welche
die Gemeinde betreffen, verhandelt und entschieden. Hier wird die Wochenordnung der
öffentlichen Arbeiten festgesetzt, der Beginn des Mähens, des Schnittes, des Einsammelns,
der Weinlese, desgleichen der Werth des Taglohnes, besonders für die Sensenlente, ja
vor alters wurde hier auch der Schnitterantheil verkündet, wogegen es keine Appellation
gab. Zu einer solchen lag übrigens kein Anlaß vor, denn, obgleich die Landwirthe selbst
bestimmten, thaten sie dies doch mit so viel Billigkeit, daß die „Armut" dabei nicht zn
knrz kam. Das war also ein förmliches kleines Parlament, das in größter Anständigkeit
waltete, denn zu dem gebührenden Ansehen des Richters gesellte sich noch das des heiligen
Ortes. Wenn aber die Frage tief in Privatinteressen einschnitt oder ein Angriff gegen den
Richter bevorstand, dann gab es nicht selten auch heftige Wortfehden, ein Murren riugsum,
und streitend zerstreute sich das Volk.
Aber das war ehemals nicht nur eiu Parlament, sondern auch ein Gerichtshof.
Ward einer beim Stehlen ertappt, oder bei argem Unfug, bei Ehebruch, bei Lästerreden,
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Ungarn (2), Volume 9
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Ungarn (2)
- Volume
- 9
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1891
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 15.56 x 21.98 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch