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Die Bevölkerung der Bocche neigt im Ganzen der Blutrache zu. Allerdings ist diese
dort, wo die Cultur weiter vorgeschritten ist, beinahe verschwunden oder hat wenigstens
ihre frühere Grausamkeit verloren; bei den Gebirgsbewohnern jedoch ist sie noch immer
eine tiefe Nationalwunde. Das unchristliche Princip: Wer sich nicht rächt, der wird nicht
heilig (l'ko se ne osveti, t^ se ns posveti), hat sich so tief ins Herz des Volkes ein-
gewurzelt, daß Jahrhunderte nicht im Stande waren, es zu vernichten, und erst durch die
Strenge der Gesetze ward es in der neuesten Zeit gemildert. Ein Volk, welches bei Tag
wie bei Nacht bis an die Zähne bewaffnet war und in dessen Adern das warme Blut des
Südens rollt, konnte sich leicht aus geringer Ursache zu einem Wortzwist, ja zum Blut-
vergießen hinreißen lassen, worauf sich dann die verschiedenen Racheacte mit allen ihren
furchtbaren Folgen gründeten. Der Mörder mußte so schnell als möglich auswandern oder
'ich lauge Zeit hindurch in Grotten und Bergen versteckt halten, weil auch der entfernteste
Verwandte des Gemordeten sich an ihm rächen und ihn tödten mußte, falls er ihm
begegnete. Eine noch schlimmere Folge war die, daß sich die Blutrache auf alle Mitglieder
der Familie des Mörders, bisweilen auf das ganze Dorf erstreckte. Lange Jahre hindurch
mußten Alle, die mit dem Mörder auch nur in ferner Verwandtschaft standen, fortwährend
nm ihr Leben auf der Huth sein.
Daß in den Bocche die Blutrache nicht so lang währte als auf Corsica, daß nämlich
nicht ganze Familien durch dieselbe untergingen, muß dem großen und wohlthätigen
Einfluß zugeschrieben werden, welchen bei dergleichen Ereignissen das als „Blutgericht"
(krvnokolo) bezeichnete Volksgericht besaß. Nach einem, unter Umständen auch nach mehr
Jahren pflegten die nächsten Verwandten des Mörders durch Vermittlung einflußreicher
Männer die Familie des Gemordeten um einen Waffenstillstand anzugehen oder sie
gelobten einander Treue (ukvatili KI v^eru) für eine gewisse Zeit. Diese wurde dazu
benutzt, die beschädigte Partei zur Einsetzung eines Blutgerichtes zu bereden. Sobald die
letztere darauf einging, bezeichnete sie der Gegenpartei eine Reihe von Personen, viernnd-
zwauzig an der Zahl, die zu Richtern berufen werden sollten. Die Verwandten des Mörders
mußten die bezeichneten Personen bereden, sich des guten Werkes anzunehmen, worauf man
gewöhnlich bereitwillig einging und den Tag und Ort des Gerichtes festsetzte. Da der
moderne Staat neben dem gesetzmäßigen Gericht kein anderes duldete, wurde das Blut-
gericht außerhalb der Reichsgrenze im kleinen Nachbarstaate abgehalten.
Dieses Volksgericht bot eine merkwürdige Scene dar. Die vierundzwanzig Richter
stellten sich im Halbkreis unter freiem Himmel auf, daneben ein Schreiber, der am Schluß
das eudgiltige Urtheil niederschreiben sollte. Der älteste Richter führte gewöhnlich den
Vorsitz. Zur Rechten stellten sich zwölf oder noch mehr Mütter auf, eine jede mit einer
Wiege und einem kleinen Kinde in derselben. Den Richtern gegenüber stand der nächste
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Dalmatien, Volume 11
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Dalmatien
- Volume
- 11
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1892
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 15.54 x 21.83 cm
- Pages
- 370
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch