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In seinem Leben offenbart sich fast ebensoviel Poesie wie in seinen Werken, und dies
erklärt die außerordentliche Wirkung, welche seine Gedichte in Ungarn wie in der Welt-
literatur hervorgerufen haben. Mehrere Städte stritten lange Zeit um die Ehre, sein
Geburtsort zu sein, bis es sich herausstellte, daß er in einem schlichten Häuschen zu Kis-
Körös am 1. Januar 1823 das Licht der Welt erblickt hat. An seinen Tod wollte in den
Trauertagen der Nation Niemand glauben und so bildete sich um seine mystisch schimmernde
Gestalt ein ganzer Sagenkreis. Der Zauber, der von seinem bewegten Leben und Dichten
ausgeht, ist noch jetzt so lebendig wie in den Fünfziger-Jahren, und Johann Arany sagt
von ihm, schön und wahr zugleich, daß, während die Last der fortschreitenden Zeit Andere
altern mache, Petöfi fortwährend „an Namen wachse" und von dem, was er geschaffen,
„nichts verloren sei, sondern Alles von Sohn auf Sohn forterbe wie eine gemeinsame Idee."
Er war ein Kind von naiver, nachdenklich-träumerischer, aber im Allgemeinen
lebhafter Gemüthsart, dem die Eintönigkeit des Schnllebens bald zur Last ward, so daß
es sich ungeduldig und trotzig zu entwickeln begann. Die warme Hinneigung seines Eigen-
wesens zu den natürlichen, ursprünglichen, urwüchsigen Eigenschaften und Äußerungen des
Volkscharakters steigerte sich von Tag zu Tag. Kaum 14 bis 15 Jahre alt, fühlte er in
der Seele das Rumoren eines unbezwinglichen Dranges, die aller Anregung bare Ein-
förmigkeit des gewöhnlichen Schuldaseins mit etwas Neuem zu vertauschen. Er lernte viel
nnd las unausgesetzt die Werke der zeitgenössischen Dichter, auch machte er selbst schon
Versuche. Sein Selbstgefühl befestigte sich immer mehr und ein starker Ehrgeiz erwachte
in ihm. Die Ahnung einer glänzenden Zukunft, die sichere Hoffnung, das stolze Selbst-
bewußtsein reisten in seiner Seele verschiedenartige Wünsche. Er verläßt die Schulbank
und wird Soldat, dann wieder studirt er weiter, der fahrende Schüler wird Schau-
spieler und schließlich bricht seine Poesie ihm Bahn. Mit starker Hand griff er gleichsam
da und dort in die Flnthen des Lebens hinein, um sich emporzuringen, mit vorwärts-
strebendem Geiste die Schranken des alltäglichen Daseins zu zerreißen. Immerfort stand
seine Seele unter der Herrschaft des Augenblicks und er erklärte sich bereit zum Kampfe
mit seinem Schicksal. Und als er sich seines Talentes bewußt geworden war und sein
Name immer berühmter wurde, da spielte er gleichsam nur das Endspiel seines abenteuer-
lichen Sehnens und von da an leitete ihn der Geist der Kunst unter heftigen Aufwallungen
nnd poetischen Aufregungen die kurze Bahn entlang. So wurde Petöfi von 1842 an der
Abgott der Jugend und nach einigen Jahren der ganzen Nation, der eine Gruppe aus-
gezeichneter Talente weit hinter sich ließ und sich durch sein Genie zu einem der allerersten
ungarischen Dichter emporkämpfte. Im Vorgefühl des nahenden Sturmes einer großen
Zeit erwartete und verkündete er, einem Propheten der Neuzeit gleich, die Revolution.
Nicht nur zur Leier, auch zum Schwerte griff er und überbrauste den Donner der Geschütze
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Ungarn (3), Volume 12
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Ungarn (3)
- Volume
- 12
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1893
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 15.49 x 21.91 cm
- Pages
- 626
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch