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auch macht sich die ungesuchte einfache Anmuth und der volksthümliche Wohlgeschmack
seiner Sprache geltend. Seine gestaltende Kraft ist so stark, daß die ungarische Literatur,
mit Ausnahme Johann Aranys, kaum ihres Gleichen kennt. Es ist unmöglich, aber auch
unnöthig, Beispiele anzuführen. Die meisten seiner Gedichte sind in fast alle europäischen
Sprachen übersetzt und selbst seiner echten Meisterwerke sind so viele, daß es schwer hielte,
eine Wahl darunter zu treffen.
In den Fünfziger-Jahren begann sich die riesige Wirkung Petöfis an den
ungarischen Schriftstellern in höherem Maße zu zeigen. Seinen Spuren folgte eine ganze
Gruppe junger Schriftsteller, unter denen hier nur Koloman Töth (1831—1881)
erwähnt sei; seine Liebeslieder, in denen die Schmerzen der Liebe sich mit großer Mannig-
faltigkeit, Leichtigkeit und volksthümlichem Reiz aussprechen, sind zu großer Beliebtheit
gelangt. Gegen die Nachahmer Petöfis sind außer Johann Arany und Tompa mehrere
noch jetzt lebende Dichter theoretisch und praktisch aufgetreten, um auch in der Lyrik die
nationale Kuustpoesie fortzusetzen. Ihr edler Geschmack und starker Formsinn wirkte
heilsam auf die Literatur wie auf das Publikum. Die hervorragendsten sind Paul
Gyulai, Josef Levay und Karl Szäsz, die auch in der Lyrik Werthvolles schufen,
obgleich Gyulai deu Schwerpunkt seiner literarischen Thätigkeit in der Kritik und Literatur-
geschichte, Szäsz aber auf dem Gebiete der künstlerischen Übersetzung hat. Karl Szäsz
hat „mit seltener Gabe der Anschmiegung an verschiedene Individualitäten" zahlreiche
ältere und neuere Meisterwerke der Weltliteratur (Nibelungenlied, Tennysou, Moore,
Burus, Byron, Victor Hugo, Lamartine, Heine, Goethe, Schiller, Dante, Mehreres von
Shakespeare) ins Ungarische übertragen, und zwar mit meisterhafter Technik, welche die
Hindernisse der schwierigsten Formen mit Leichtigkeit überwand. Neben Johann Arany
ist er in Ungarn der bedeutendste Meister der künstlerischen Übersetzung. Noch ist Johann
Vajda zu erwähnen; seine Poesie zeigt Kraft und Tiefe und manche Leidenschaft, manche
düstere Aufwallung oder philosophische Idee findet bei ihm ergreisenden Ausdruck.
Unter den erzählenden Dichtungen Petöfis ist „Held Jänos" (-länos vits?) die
vorzüglichste; ihre literaturgeschichtliche Wichtigkeit liegt darin, daß sie die naive Phantasie
und idyllische Lieblichkeit des Volksmärchens mit der Kunstdichtung verschmolz und dadurch
den schüchternen Genius eiues gewaltigen Talents ermuthigte und zu selbstbewußter
Thätigkeit antrieb. Unter der Wirkung dieses Werkes begann nämlich Johann Arany
(1817—1882) den ersten Theil seiner Trilogie „Toldi", um durch sein Genie das Streben
Petöfis zu verdoppeln, welches der ungarischen Kunstpoesie die fruchttragenden Schöß-
linge der Volksdichtung aufgepfropft hatte. Darum schrieb Petöfi, als er die Handschrift
des „Toldi" gelesen, voll Entzücken an Arany: „Was ich nicht so gänzlich ruhmlos einst
begonnen, setze du es fort, o Freund, mit vollem Ruhme!"
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Ungarn (3), Volume 12
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Ungarn (3)
- Volume
- 12
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1893
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 15.49 x 21.91 cm
- Pages
- 626
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch