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vorherrschenden, ehrwürdigen, wunderbaren Gebäude sorgen schon dafür, daß wir uns in
einer ganz besonderen Welt fühlen. Die Mittagsstunde hat soeben geschlagen. Auf dem
halbleeren Platze sieht man plötzlich Leute, die ihr Haupt entblößen und zu beten anfangen:
der Friedensengel, Angelus Domini, fliegt eben über die Stadt und läßt ihre Glocken
erklingen. Dann dringt zu uns, von der Höhe des Frauenkirchenthurmes herab, eine
seltsame, weit schallende und doch sanfte Melodei. Krakau besitzt kein Glockenspiel, das so
manches süddeutsche und norditalienische Städtchen ergötzt. Alle Stunden, Tag und Nacht,
blasen dafür die Thürmer der Marienkirche ein altes Lied, und zwar viermal, in die vier
Weltgegenden hinaus. Im Mai, in dem der heiligen Jungfrau geweihten Monate, lassen
die Thürmer auch Frühmorgens, nach Sonnenaufgang, fromme Melodien in die noch
schlummernde Stadt erklingen.
Die Marienkirche kehrt dem Ringplatze zwei große rothe Thürme zu, welche mit
den Jahren dunkel geworden sind. Der linke ist schlanker und höher und läuft in eine
originelle, leichte Bedachung aus: in acht Thürinchen, welche die Mittelspitze umgeben.
Von dorther ergießen sich zu jeder Stunde jene weithin klingenden, eben erwähnten
Melodien. Der zweite Thurm ist um vieles niedriger und trägt eine Mütze im Barockstil.
Die Legende erzählt, daß zwei Brüder, beide Architekten, es unternommen hätten, diese
Thürme aufzubauen. Der Eine, der jüngere, dachte nur daran, daß sein Bau so hoch als
möglich emporschieße. Der Andere legte indessen mächtige, breite Stützen unter den seinen.
Plötzlich bemerkte der jüngere Bruder, daß er die Arbeit nicht höher führen könne, weil
die Fundamente eine weitere Last nicht mehr ertragen konnten. In einem Augenblick von
Schmerz und Besinnungslosigkeit erstach er den Bruder. Der zweite Thurm blieb
unvollendet; das Messer, mit welchem der Brudermord vollbracht wurde, hängt im Thor-
wege der Tuchhalle.
Vou dem ersten, im Jahre 1226 begonnenen Holzbau der Marienkirche ist keine
Spur geblieben. Der heutige trägt den Stempel einer viel späteren Zeit nnd hat vorzüglich
den Charakter der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts. Es ist ein gothischer Ziegelbau,
welcher viele Details in Steinausführung und Spuren begonnener, aber nicht ausgeführter
Strebepfeiler und Strebebogen an sich trägt. Die Marienkirche ist die schönste nnd älteste
Kirche Krakaus. Mit der Geschichte der reichen städtischen Bürgerschaft innig verwachsen,
enthält sie Beweisstücke der Andacht ganzer Generationen.
Nach der Verwüstung des Landes durch die Tataren im XIII. Jahrhundert ertheilte
Boleslans der Schamhafte (?uäicus), Fürst von Krakau und Saudomir, deutschen
Ansiedlern das Privileg, sich nach Magdeburgischem Rechte einzurichten. So wurde die
Stadt zur Hälfte deutsch, und die Marienkirche war lange Zeit hindurch ein deutsches
Gotteshaus, in welchem sich die nun fremde Bürgerschaft taufen und begraben ließ.
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Volume 19
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Galizien
- Volume
- 19
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1898
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.48 x 22.34 cm
- Pages
- 920
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch