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Die neue Großmacht sollte ihre ruthenischen Ländergebiete, welche sie dem Joche der
Tataren entrissen hatte, vor deren weiteren Einfällen dauernd schützen, andererseits aber
war sie berufen, die Macht des deutschen Ordens, welche sowohl Polen als Lithauen ernstlich
bedrohte, zu brechen und den beiden Ländern die Küsten der Ostsee und die Mündungen
der Weichsel und des Niemeu zu erschließen. Die Lösung dieser zwei großen Ausgaben
war jedoch den beiden vereinigten Reichen dadurch besonders erschwert, daß dieselben
trotz ihrer Macht und Ausdehnung durchaus kein einheitliches Gefüge bildeten. In
Lithauen selbst bestand ein großer Unterschied zwischen den ruthenischen und den eigentlich
lithauischen Provinzen. Die ersteren waren infolge langjähriger Kämpfe und der Unterjochung
durch die Tataren demoralisirt und geschwächt, besaßen aber ihre eigene aus Byzauz
entlehnte Cultur und eine eigene Schriftsprache, welche sogar am Hofe des Großfürsten von
Lithauen in Wilna und in dessen Kanzlei Eingang gesunden hatte. Die eigentlichen Lithauer
waren noch Heiden und ihrem Reiche mangelte somit die Anerkennung in dem Völkerrecht
des Mittelalters. Die deutscheu Kreuzherren in den Ostseeprovinzen waren mithin nach
den Begriffen dieses Rechtes vollkommen befugt, gegen Lithauen zur Ausbreitung des
Christenthums einen Vernichtungskampf zu führen. Jagiello erfüllte daher ein Gebot
politischer Klugheit, als er sich mit dem Namen Ladislaus taufen ließ und gleich uach der
Krönung sich »ach Lithauen begab, um auch sein Volk znr Annahme des Christenthums
zu bewegen. Die polnische Geistlichkeit war berufen, dieses Werk der Bekehrung durchzu-
führen. Es wurden zwei neue Bisthümer in Wilna und in Troki errichtet nnd dem polnischen
Erzbischose von Gnesen untergeordnet. Die abendländische Cultur faßte hiedurch im
eigentlichen Lithauen festen Fuß.
Der polnische Einfluß auf Lithauen konnte sich indeß unmöglich so rasch und so
allgemein geltend machen, um die sofortige Einverleibung Lithauens zu ermöglichen. Um
dies zu erreichen, mußten zuvor die heidnischen Lithauer wirklich vom Geiste des
Christenthums durchdrungen werden, mußte die ganze politische und sociale Organisation
des lithauisch-rutheuischeu Reiches sich jener des polnischen wenigstens nähern. Mit der
Übertragung der politischen Einrichtungen Polens auf diese Gebiete hat Ladislaus Jagietto
de» Anfang gemacht, indem er iu den lithauischen Provinzen die Organisation der polnischen
Wojwodschasten und Eastellaneien ins Leben rief. Mit der Übertragung der socialen
Organisation hatte es noch seine weiten Wege. Die sociale Gliederung des polnischen
Volkes war auf dem historisch entwickelten Principe der persönlichen Freiheit aufgebaut.
Der Edelmann war Eigenthümer seines mehr oder weniger ausgedehnten Gutsbesitzes, der
Bauer war persönlich frei und gegen Zinsentrichtung landsässig, die Kirche, der Adel in
seinen Territorien, die durchwegs deutschen Städte und sogar die Landgemeinden erfreute»
sich einer fast vollständigen Autonomie. Ganz anders in Lithauen und in dessen rnthenischen
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Volume 19
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Galizien
- Volume
- 19
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1898
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.48 x 22.34 cm
- Pages
- 920
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch